Kolumne: Das Selbstbewusstsein und die Kunst der Antipathie

12. Oktober 2015 von in

Unser ganzes Leben lang wird uns beigebracht, von Menschen gemocht zu werden. Ich kenne glaube ich keinen, der den Satz „Mir völlig egal, was andere von mir halten“ wirklich ernst meint. Es ist das Heidi-Klum-Phänomen unserer Zeit: Wir sehen alle gut aus, haben ein vorbildliches Leben, lächeln viel, werden immer besser im Small Talk und versuchen, es allen recht zu machen. Aber wieso zum Teufel sind wir so erpicht darauf, von allen gemocht zu werden? Meine Beobachtungen an mir selbst und an den Menschen um mich herum zeigen mir, dass der ständige Versuch, mit allen zu recht zu kommen, eher anstrengt als entlastet.

Jo Elvin, Redakteurin der britischen Glamour, hatte laut des aktuellsten Editor’s Note starke Probleme damit, nicht gemocht zu werden. Sie machte sich stets Gedanken darüber, was andere Menschen von ihr halten und was sie hinter ihrem Rücken sagen könnten. Ihr fehlte die „I don’t give a fuck“-Attitüde, die es manchmal braucht, um stressfreier zu leben. In einem Stress Management Kurs, den Jo Elvin absolvierte, brannte sich ihr ein Satz ein, den sich viele Menschen auf der Welt merken sollten: „Somewhere out there, there is someone who thinks you are shit. And there is nothing you can do about it.“. Die Devise hat viel mit Selbstbewusstsein zu tun. Es geht nicht darum, seine Mitmenschen zu vergraulen und zu beleidigen, sondern seine Meinung zu sagen und diese in einer Lautstärke, in der man nicht schreit, aber eben auch nicht flüstert. Und das ist wichtig.

Sich seiner Selbst bewusst sein. Das bedeutet, seine eigenen Stärken zu kennen und sich zu trauen, diese zu artikulieren. Das bedeutet aber auch, Schwächen zu erkennen und mit ihnen zu leben. Traurig zu sein, glücklich zu sein und sich vor allem nicht dafür zu schämen, wer man ist. Meinungen zu haben und diese in einer angebrachten Lautstärke zu vertreten. Letztens hatte ich ein (leider sehr klassisches) Beispiel für das Gegenteil von Selbstbewusstsein.

Ich sprach mit zwei Frauen um die Fünfzig. Zwei wunderbare Frauen. Sie sahen nicht nur gut aus, sie waren intelligent, lustig und erfolgreich. Die eine Fotografin, die andere Produktdesignerin. Tolle Persönlichkeiten, die – wie sich bei einem längeren Gespräch herausstellte – immer noch absolut keine Ahnung davon haben, wie toll sie sind. Keine von beiden erwähnte bei Gesprächen ihren Job oder sprach über das, was sie so tut im Leben. Als ich eine der beiden fragte, wieso sie das nicht tut, war die Antwort: „Das interessiert doch keinen. Außerdem will ich nicht überheblich wirken.“. Ich war fassungslos.

Ich glaube, wir alle aus der „neuen Generation“ halten uns für stark und selbstbewusst, allerdings sehe ich nur, dass wir unsere Unsicherheit besser verstecken, als die fünfzigjährigen Frauen, die sich nicht mal trauen, zu sagen, dass sie arbeiten. Wenn es darauf ankommt, sich zu beweisen oder jemanden zu kritisieren, wissen wir bis heute nicht, was wir tun sollen. Weil wir keinem weh tun wollen und es genießen, von allen lieb gehabt zu werden. Was man dagegen tun kann? Jo Elvin hat sich einen Hund gekauft, der ihr in kritikgeschwängerten Gesprächen Sympathiepunkte einräumen soll. Vielleicht bräuchten wir alle Hunde. Oder wir hören manchmal auf, sympathisch zu sein und fangen an, zu akzeptieren, dass uns nicht jeder mögen kann. Aber vielleicht wenigstens unseren Hund.

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2 Antworten zu “Kolumne: Das Selbstbewusstsein und die Kunst der Antipathie”

  1. Schöner Artikel :)

    Und das Beispiel mit den Frauen um die 50 zeigt mir einmal mehr, was ich letztes Jahr im Rahmen einer kleineren Studie zu Generationen glaubte, gesehen zu haben.

    Früher wurde-insbesondere Frauen- nahegelegt, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen; Teil eines Ganzen zu sein, zumindest aber Kümmerin einer Familie, in der eigene Bedürfnisse zurückzustehen hatten.

    Heute ist jeder zuerst ein Individium. Ein chronischer Selbstverwirklicher. Ich!
    Dann erstmal Pausetaste.
    Um sich dann von der Masse abzuheben/aufzufallen, bedarf es einiges an Attributen, die nur die heutige junge Generation zu haben scheint.
    Lauthals „hier“ schreien zu können/fast schon zu müssen.
    Hier, ich! ich! hab noch nix. Ich kann das; besser. Aber mindestens mal am besten.

    Doch dann kommt wieder die Crux mit dem Liebhaben dazwischen.
    Das hat sich nämlich wie mir scheint, nicht geändert.
    Das ist und bleibt ein urmenschliches Bedürfnis, aus unseren Genen heraus gesteuert – wer allein bleibt und keiner Gruppe angehört, verliert und stirbt.

    Darum ist es so schwer mal anzuecken. Raus aus der Gruppe heisst es dann. Aber sofort!

    Aber es gibt -Gott sei Dank- andere Gruppen, die die Ausgestossenen dann aufnehmen.
    Und vielleicht passt man viel besser in diese neue Gruppe und sei es nur, weil sie auch Hunde mag :)

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