München ist aus Versehen cool geworden

19. Juli 2017 von in

Es ist 1999 und Laney Boggs bewegt sich in Sandaletten vorsichtig die Wendeltreppe nach unten. Sie hat in dem Film „Eine wie keine“ ihren großen Auftritt: Der unscheinbare Außenseiter, der sich für Kunst interessiert und nicht für seine Frisur oder sein Outfit, hat endlich die Nerd-Brille abgelegt, sich ein betörend rotes Spaghettiträgerkleid angezogen und für einen schulterlangen Stufenschnitt entschieden.

Das Make-Over geht in die Geschichte der Chic Flicks ein und steht heute, 2017, repräsentativ für München – nur umgekehrt. Während sich München die letzten Jahrzehnte Mühe gab, die perfekte Laney Boggs nach dem Umstyling zu sein, findet die Stadt neuerdings zu seiner kreativen Laney zurück, die sich mehr für Kunst interessiert als ihre Frisur – und ist dabei beeindruckend sympathisch.

Ein Beispiel: Das Wochenende bietet ungewohnte Auswahlmöglichkeiten an Veranstaltungen. Donnerstag bis Samstag sind die Abendgestaltungen ausgelastet, neuerdings verirren sich sogar an einem Mittwoch Facebook-Einladungen in meinen Kalender. Ob die gut besucht sind, kann ich nicht beurteilen, da ich von Sonntag bis Mittwoch damit beschäftigt bin, meine Oberschenkel am überhitzten Laptop zu verbrennen und meinen weißen Küchentisch von Kaffeetassenspuren zu befreien (irgendwann muss man sich auch ausruhen und einfach mal Mensch sein).

Doch Donnerstag. Donnerstag geht es raus. Hallo Welt! Da bin ich, ich hoffe du hast mich auch vermisst, ich bin vollkommen Dein! Das Glockenbach und die Maxvorstadt füllen sich ab 18 Uhr zunehmend, man trifft seine Freunde und Bekannte, besucht Veranstaltungen, zu denen jeder kommen darf, weil wir sind eine große Familie und generell eh nicht so viele. Es herrscht ausgelassene Stimmung und wir lassen uns treiben bis 23 Uhr. Danach geht’s ab ins Bett, denn morgen ist schließlich auch noch ein Tag!

„Ich beobachte jedenfalls wohlwollend aus der Ferne, dass ihr in München gerade viel 2000er Musik hört, das ist schon mal ein Zeichen für Fortschritt in Sachen Retro“

„Ich beobachte jedenfalls wohlwollend aus der Ferne, dass ihr in München gerade viel 2000er Musik hört, das ist schon mal ein Zeichen für Fortschritt in Sachen Retro“, verhöhnt mich meine Freundin Ilona von Mit Vergnügen Berlin, als wir über das florierende Münchner Nachtleben sprechen, mit dem ich mich zu Hause und intensiv auf Instagram und Facebook beschäftige (nur dabei statt mittendrin).

Ilona hat es sich in ihrem kecken Mitte gemütlich gemacht und für 2000er Musik in Sachen Retro ein müdes Lächeln übrig: „Italodisco wenigstens, ich bitte dich“, denkt sie sich wahrscheinlich und zieht dabei an keiner Zigarette, weil das macht man echt nicht mehr. Sicherlich steckt in ihrem Spott auch ein subtiles Ilona-Lob – und doch: „Retro“ beschränkt sich auf die Das-erinnert-mich-an-meine-Jugend-Coolness unserer Eltern. Gesetzt, gefestigt und oft Scharf an der Pointe vorbei; doch das wird einfach weggelacht: München dreht sich um sich selbst, aber hat dabei wenigstens Schwung. Das ist der Charme an der Münchner Szene; der bemühte Versuch der Ausgelassenheit.

Hier spielt man abends in ehemaligen Bars wie das Kiss, Girls, im Awi und auf sämtlichen Events in ironischen Off-Locations sympathische Musik von Gigi D’Agostino, die damals wie heute inbrünstig vom Publikum mitgesungen wird („DÖDÖDÖDÖ“). Macht man nicht mehr? Das ist uns egal, Munich just wanna have fun, haha! Retro, pah! Im gewohnten Kleid der Münchner Schickeria-Arroganz ist „Sympathie“ das Stichwort für den plötzlichen Image-Wandel des einst so hinterweltlichen Münchens. Das Make-Over der bayerischen Hauptstadt zieht dem Klischee-BWL-Studenten den Woolrichmantel aus und verpasst ihm eine Jeansjacke.

„Wir können auch anders!“, rebellieren die neuen Pick and Weight Stammgäste aus der Schellingstraße, die keine Energie haben, in eine andere Stadt zu ziehen, in der mehr los ist. Sie kreieren stattdessen Facebook Events mit Namen wie „Ich will nicht nach Berlin ziehen!“, oder „München, was ich dir schon immer mal sagen wollte“, um eine Lösung für ihr Problem der unermütlichen Inspirationslosigkeit in jener Stadt zu finden, in der es Fixkosten zu deckeln gilt, die in anderen Städten Deutschlands ein üppiges Monatsgehalt bilden. Sie bauen Jugendzentren für Erwachsene, machen lokales und gutes Radio, eröffnen Weingärten, Clubs und Sommersalons, schmeißen einen Launch nach dem anderen, machen Kunst, und gießen mit rührender Hingabe die zarten Knospen der Kreativszene. Sie machen den nonchalanten, bodenständigen Spaß an der Freude en vogue.

Hier hält man zusammen. Hier schafft man sich mit Freunden aus der Grundschule in der Großstadt ein Szenedorf, das sich Mühe gibt, mitzuhalten, und damit neuerdings aus Versehen den Nerv der Zeit trifft.

Ein Gemeinschaftssinn treibt die Münchner an, die sich nicht mehr hinter ihrem verstaubten Image des arroganten Schnösels verstecken müssen. Komm nach München! Hier ist es cool, du musst nur genau hinsehen! Und genug Schlaf bekommst du hier auch.

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8 Antworten zu “München ist aus Versehen cool geworden”

  1. Langsam aber sicher räumst du hier bestens mit allen Klischees auf, die ich über München habe. (Komme aus NRW). Wird also vielleicht doch irgendwann mal Zeit für einen Besuch!

  2. Kann dir gar nicht sagen was für einen Sprung mein Herz gemacht hat als ich diesen Post gelesen habe.
    Ich studiere Modedesign in München. ‚Wie? Du studierst Design in München? Zimmert ihr dann den ganzen Tag Louis Vuitton Taschen?‘ Solche Sätze kriegt man oft an den Kopf geschmissen. Was mir eigentlich auf gut deutsch gesagt am Arsch vorbei geht. Aber anderen nicht. Und ich finde die Kreativenszene sollte sich nicht verstecken, weil Berlin oder New York oder London cooler sind. Keine Frage, diese Städte sind cool. Nur München ist es auch. Und Rummeltshausen. Und sonst irgendein Kaff, in dem vielleicht nur eine Person an ihrem Schreibtischen sitzt und Bock hat etwas Neues zu machen – kreativ zu sein. Das ist doch immer der Beginn von neuen Strömungen. Dass vielleicht mal aus einer Person 10 werden und diese dann sagen ‚Hey wie wärs wenn wir mal ne Party mit diesem und jenem Konzept starten. Wir lieben das, wieso auch nicht andere?‘ Und im besten Falle finden auf dieser Party nicht nur 10, sondern 100 andere zusammen, die sich einfach verstehen. Einfach so. Ja, das passiert auch in München :)
    In diesem Sinne, hoffentlich begegnet man sich mal im Awi!

    juliateutsch.com

  3. […] Dass München mittlerweile ziemlich cool ist, wissen wir bereits schon länger. Doch es geht weiter mit den guten Nachrichten: Denn Münchens Szene ist nicht nur super, es gibt auch ziemlich viele coole Mädels, die was eigenes auf die Beine stellen. Kürzlich haben wir euch schon die Mädels von SuperCalé vorgestellt, jetzt haben die zwei mit anderen Girls etwas Neues geplant: das Girlz Collective! […]

  4. […] Dass München neuerdings seinen eigenen Tonus gefunden hat, ohne zu imitieren oder krampfhaft zu versuchen, irgendjemand zu sein und dabei trotzdem jemand ist, habe ich bereits zum Besten gegeben. Schuld daran ist ein enger Zusammenhalt der Münchner Kreativszene und gegenseitige Unterstützung von allen Seiten, sowie Lust auf Kunst und Kultur. […]

  5. Cooler Artikel. Ich finde sowieso diese ewigen Vergleiche mit Berlin supernervig. Berlin ist Berlin und München ist München!
    Jede Stadt hat viel zu bieten und gerade weil sie unterschiedlich sind bleibt es doch interessant!
    Die Veränderungen von denen zu erzählst sehe ich teils auch, allerdings nicht immer so lässig und offen wie du es beschreibst. Vielleicht bin ich dann aber auch an den falschen Orten?
    Fände es daher supercool, wenn ihr vielleicht mal von Veranstaltungen direkt schreiben würdet oder irgendwie in der Art ?

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