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Reader’s Note: Haare ab, Blicke an

28. Juni 2016 von in

Ich dachte, kurze Haare sind einfach praktisch. Je kürzer, desto praktischer, also Glatze. Ruth May tut es, Halsey tut es, Channing Tatum tut es. Also ich auch. Ist ja nichts dabei. Ist ja mittlerweile auch im Mainstream angekommen. Erst auf dem Runway, jetzt im Zara-Onlineshop. Also, wo ist das Problem? Rasierer an, Haare ab.

Nun ja, mit den Haaren ab, gingen auch die Blicke an. Seit Kurzem bin ich zum Gegenstand des öffentlichen Interesses mutiert. Wenn ich jetzt auf die Straße gehe, gehe ich nicht mehr einfach auf die Straße. Nein, ich und mein kurzer Haarschnitt werden begutachtet, kommentiert, beurteilt. Plötzlich hat jeder eine Meinung zu meinem Erscheinungsbild und teilt sie mir ungefragt mit.

Ich kannte das ja bereits von Männern. Verbale Belästigungen gehören zum Alltag. Jetzt ziehen aber auch Frauen mit. Ich fühle mich täglich wie ein Beuys Fettklumpen vor dem unwissenden Betrachter. Mein Haarschnitt erfordert für meine Umwelt Erklärungen, zu jeder Zeit und überall. Es ist als würde ich plötzlich nicht mehr der Norm entsprechen, was dazu führt, dass Fragen wie „Darf ich mal anfassen?“ und „Was sagt dein Freund dazu?“ von nun an zu meinem Alltag gehören. Ob ich es will oder nicht.

Wer jetzt sagt: „Komm, du willst doch Aufmerksamkeit und das mit deinen Haaren ist doch echt eine krasse Sache, damit musst du doch rechnen!“, der möge sich in die Reihe der Vertreter von „Ihr Rock war so kurz, sie hat es doch provoziert“ einordnen. Denn nein, ich provoziere nicht, wenn ich meine Haare so trage, wie es mir gefällt. Es ist auch kein rebellischer Akt oder eine späte Pubertät. Ich empfinde diesen Haarschnitt tatsächlich als schön, und ich möchte ihn tragen können, ohne mich rechtfertigen zu müssen.

Vielleicht war ich auch ein bisschen verblendet. Denn als Modedesignerin war der Buzzcut in meiner Branche bereits seit längerem Trend und schon lange nicht mehr „provozierend“. Selfridges launchte letztes Jahr den Agender-Concept Store, das i-D Magazine brachte ein „Gender Issue“ heraus, ACNE schrieb sich „Gender Equality“ direkt auf die Brust und an Ruth May kam man spätestens bei den Fall 2016 Präsentationen nicht mehr vorbei. Vielleicht rechnete ich deshalb nicht mit diesen Reaktionen, die mein kahler Kopf hervorrufen würde.

Wenn ich nun regelmäßig zu hören bekomme, dass ich „so mutig“ sei meine Haare abzurasieren, dann muss ich kurz schlucken, durchatmen und mich anschließend zusammenreißen. Auch wenn es ein bewunderndes „Mutig“ ist. Offensichtlich sind wir nämlich immer noch ein ganzes Stück von der Gender Equality entfernt. Frauen können in der Öffentlichkeit rauchen, Hosen anziehen und Fahrradfahren. Wir dürfen sogar studieren und wählen gehen. Aber die Haare abrasieren, das ist so ziemlich das Mutigste, was eine Frau tun kann.

Wallendes Haar steht für Weiblichkeit (aber bitte nur auf dem Kopf). Schneidest du es ab, amputierst du dir in den Augen vieler dein „Frau-Sein“. „Ich finde Frauen mit kurzen Haaren einfach nicht erotisch.“, hat mir kürzlich eine Mitfahrgelegenheit ungefragt gesteckt. Ich finde eine solche stereotype Aussage nicht erotisch.
Ich bin für mehr Kreativität bei dem Thema Haare – am ganzen Körper! Wie definieren wir Weiblichkeit? „Du siehst jetzt nicht mehr wie so ein Mädchen aus“ war ebenfalls ein nett gemeintes Kompliment.
Ich frage mich: Wie sieht denn ein Mädchen aus? Ich bin nämlich eins.

Dies ist ein Gastbeitrag von Katharina Koch. Die 23-Jährige hat Modedesign studiert, Praktika bei Les Mads und der Brigitte Moderedaktion absolviert und arbeitet derzeit in Bratislava als Design Junior Assistant des Labels Nehara. Im Dezember beginnt sie ihren Masterstudiengang im Bereich Mode. Mehr zu Katharina findet ihr auf Instagram unter dem Namen tantpis_.

Du schreibst ebenfalls gern und hast ein Thema, das in unsere neue Rubrik „Reader’s Note“ passen würde? Wir freuen uns über Themenvorschläge oder bereits verfasste Artikel freier Autoren – künftig wollen wir öfter Gastbeiträge unserer Leser veröffentlichen. Schreibt uns einfach eine Email an hello@amazedmag.de und dem Betreff Readers Note. Wir freuen uns! 

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12 Antworten zu “Reader’s Note: Haare ab, Blicke an”

  1. Du hast die Thematik wirklich perfekt auf den Punkt gebracht. Ich seh es genauso – es gibt keinen Grund zur Rechtfertigung! Ich habe mir vor fünf Jahren auch die Haare abgeschnitten – nicht einmal raspelkurz. Ich musste mir auch einiges anhören. („sieht halt… Anders aus“)…
    Mal vom ganzen abgesehen stehen dir die Haare wundervoll! :)

    Meri <3
    Combinedblog.wordpress.com

  2. Toll geschrieben! Ich finde es schon erstaunlich, welche Kommentare (ungefragt) geäußert werden, wenn frau sich die langen Haare zum Bob schneiden lässt…

  3. Super Beitrag den ich aus eigener Erfahrung sehr gut bestätigen kann. Im Februar rasierte ich mir die Haare ebenfalls ab und war daraufhin erstmal völlig baff von den Reaktionen meiner Umwelt. Aber um ehrlich zu sein, musste ich durch diesen Haarschnitt auch feststellen, dass es dem eigenen Selbstbewusstsein doch manchmal ganz schön weh tut, wenn das flirten generell weniger wird auf Grund der Friese.
    Ist schon recht spannend zu beobachten, was das raspelkurze so mit einem macht. Ich fühle mich jedenfalls manchmal wie eine wandelnde Sozialstudie.

  4. Liebe Katharina,

    einen wirklich spannenden Artikel hast du da geschrieben.
    Auch wenn es ein anderes Feld ist, hat es mich doch sehr an mein Dasein als Veganerin unter lauter Nicht-VeganerInnen erinnert: da meinen auch ständig Leute, sie müssten kommentieren, was ich mache bzw. was sie allgemein davon halten, was noch ok ist und was nicht mehr und auch gerne mal, wie sehr sie einen doch bewundern, auch wenn sie das selbst „nie könnten“.

    Ich denke mit diesen ungefragten Äußerungen kriegt man es immer zu tun, wenn man auf irgendeine Weise nicht der Norm entspricht, sei es nun optisch, modisch, beim Essen oder wasauchimmer. Es nervt wahnsinnig, aber diese Erklärung hat zumindest mir beim Einordnen der Kommentare geholfen. Die Norm ist so lange unsichtbar, bis sie gebrochen wird und dann regnet es plötzlich aus purer Verlegenheit/Überforderung/Neugierde Urteile von allen Seiten.
    Also Kopf hoch, Ohren auf Durchzug schalten und sich ein kleines bisschen freuen, dass man selbst vielleicht schon ein wenig weiter ist im freien Denken.

  5. Ein wirklich toller Gastbeitrag! Ich finde es ja ziemlich nervig, dass Leute bei solchen Entscheidungen oftmals denken, es kommt daher man wolle Aufmerksamkeit und sich dann pseudopsychologisch in einen hineinversetzen versuchen. Einige Leute sehen Menschen nur in Schwarz oder Weiß: Entweder man erfüllt nicht die Norm, oder man tut es. Wieso nicht akzeptieren, dass alle unterschiedlich sind?

    xx Ana http://www.disasterdiary.de

  6. Ein sehr ehrlicher und guter Beitrag. Allerdings würde ich nie auf die Idee kommen, dass eine Person, die sich die Haare abrasiert Aufmerksamkeit möchte. Ich denke was hier eher das Problem ist, ist, dass wir in unseren Köpfen mit abrasierten Haaren negative Dingen verbinden. Um nur ein paar zu nennen: Chemotherapie, Krebs, Krankheit im Allgmeinen und ich – als Historikerin vor allem – die Bilder aus den KZetts, die die Amis gemacht haben. Natürlich ist das bei weitem nicht das gleiche. Aber ich kann nichts dafür – diese Bilder ploppen automatisch auf wenn ich so etwas sehe. Natürlich kann ich zwischen den negativen Sachverhalten und dem bewusst gewähltem, positiven Haarschnitt unterscheiden. Ich rede vom Unterbewusstsein – und ich denke das kommt der Gesellschaft hier in die Quere. Nicht unbedingt die Norm (den Pixi cut fanden ja auch alle toll) und deshalb sind die Reaktionen darauf auch so heftig.

  7. Vielen Dank für diesen Beitrag! Nach 2 Jahren der Undercut-Abstinenz hatte ich mich Anfang dieses Jahres dazu entschieden mir wieder einen schneiden zu lassen. Ich tastete mich langsam voran mit 2 Sidecuts auf je beiden Seiten meines Schädels und DA ging es bereits los! Blicke, Kommentare, Gelächter, traurig, aber wahr. Viele sind definitiv noch nicht so weit über den Tellerrand hinauszuschauen.

    Liebe Grüße und weiter so!
    Tatjana von
    https://sectionofstyle.com/

  8. Meine Erfahrung, als ich mir die Haare hab ganz kurz rasieren lassen letztes Jahr war noch zusätzlich zu den von dir genannten Punkten, dass ich teilweise im Alltag von fremden Mitmenschen und an der Kasse auffallend, also ich meine wirklich auffallend!, freundlich und behutsam behandelt und beäugt wurde, sodass sich mir ernsthaft die etwas politisch inkorrekte Frage aufgedrängt hat, ob diese Menschen gerade davon ausgehen dass ich Krebs habe – nur weil meine Haare fast ab sind. Dass ich das einfach schön finden könnte konnten viele glaube ich nicht mit Sicherheit annehmen.

  9. was für ein toller artikel!!! habe selbst – nicht mehr blutjung – seit jahren raspelkurze haare und werde oft darauf angesprochen, zum glück aber mehr positiv als negativ. meist so in etwa „toll, dass dir das steht, hätte ich auch gerne, aber ich bin nicht der typ dafür/ich traue mich nicht“.
    meine kurzen haaren sind zu meinem statement geworden u wachsen lassen kommt nicht mehr in frage (hatte in meiner jugend haare bis zum po ;-) )
    dass in der heutigen zeit ein simpler haarschnitt immer noch so viele reaktionen hervorruft – und sich viele menschen überhaupt zu einem (ungefragten) statement hinreissen lassen – ist einfach nur traurig. ich hoffe, du trägst deinen kopf weiterhin oben :-)
    (übrigens habe ich von männern zu 90% nur positive resonanz bekommen – und irgendwo auch mal gelesen, dass nur schwache männer frauen mit langen haaren bevorzugen – na dann: alles richtig gemacht)

  10. Oh, wie mir dieser Artikel und auch einige der Kommentare aus der Seele sprechen. Seit nunmehr zweieinhalb Jahren trage ich meine Haare ganz kurz oder sogar ab. Erstens, weil ich es schön finde und mein Freund auch, zweitens weil ich meine Haare schon immer gehasst habe und drittens, weil mir aufgrund von Depressionen jegliche Lust und Motivation vergangen sind, mich jeden morgen eine halbe Stunde meiner Frisur zu widmen. Die Reaktionen meines Umfeldes reichten von überraschend bis peinlich. Was mich am meisten stört, ist das ich fast überall von Leuten, die mich nicht näher kennen, in die Schublade „Krebs“ gesteckt werde. „Ja gel, du bist ja krank“- ja, bin ich! „Ach, das ist ja so schlimm, Krebs ist ja schon eine Volkskrankheit geworden“
    Da stehe ich dann regelmäßig da und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich habe nicht den Wunsch und auch nicht die Pflicht, mich zu rechtfertigen, fühle mich aber immer wieder schlecht, weil ich denke, dass ich einen falschen Eindruck vermittelt habe, ohne diesen dann richtig zu stellen. Denn offen mit Depressionen umzugehen, ist ja auch so eine Sache.

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