Kolumne: 30 ist NICHT das neue 20

30. Oktober 2017 von in

Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht. Der frühe Vogel fängt den Wurm. 30 ist das neue 20. Letzteres kann sich in die Redewendungen einreihen, die man so sagt, aber nicht unbedingt recht behalten. Der Spruch „30 ist das neue 20“ impliziert, dass sich unsere Lebensentwürfe nach hinten verschieben. Wir gründen später Familien und fangen später mit dem Erwachsenwerden an, das unter Anderem ein geregeltes Leben und sichere Einkünfte mit einschließt. Tatsächlich schaffen wir uns mit diesem Spruch ein Jahrzehnt Freifahrtschein. Und das ist ein verdammt großer Luxus, der uns zerstören kann.

Man muss es sich erst einmal leisten können, ein gesamtes Jahrzehnt mit Selbstfindung zu verschleudern. Menschen – wie die Meisten unter uns, die diesen Artikel lesen – sind in behüteten Verhältnissen aufgewachsen und können auf ihr sicheres Netz zählen, wenn es hart auf hart kommt. Dieser Funken Sicherheit kann zwar schön sein, er kann aber auch faul machen. Statt uns Identitäten durch Erfahrungen und Tätigkeiten zu schaffen, fallen wir in Identitätskrisen. Diese Krisen bestehen darin, eine theoretische Formel für uns selbst zu finden:

Wer bin ich? Was will ich? Wir grübeln, starren aus dem Fenster, jobben und schreiben manchmal Tagebuch. Bis wir irgendwann erkennen, dass es uns als Identitäten in keiner Theorie gibt. Uns gibt es nur in der Praxis. Und diese Praxis, die aus uns Persönlichkeiten, ja, Identitäten, macht, schieben wir auf.

Denn 30 ist das neue 20.

Es geht dabei nicht darum, so schnell wie möglich eine Familie zu gründen und einen sicheren Job anzufangen. Es mag luxuriös sein, auf keinen 9-6-Job angewiesen zu sein, aber dieses Privileg kann als Chance genutzt werden, ein anderes Leben führen zu dürfen. Entweder, man vergeudet seine Zwanziger mit Jammern, Sinnkrisen, Bier mit Freunden, Liebeskummer, schlechten Beziehungen oder sentimentalen Tagebuch-Einträgen, oder man schafft sich in diesem Jahrzehnt die Grundlage für sein weiteres Leben. Man bestimmt über seine Zukunft, in dem man etwas TUT. Und das kann alles sein. Weltreisen, Auslandsjahre, Yoga-Ausbildungen, Ausbildungen im Allgemeinen – verallgemeinert gesprochen: Den Lebensstil angehen, den man mit 30 gerne leben möchte. Und ihn somit in seinen 20ern schon leben.

Was soll dieser zehnjährige Platzhalter, den sich so viele Menschen geben? Warum sollte ich erst mit 30 das anfangen, was ich auch mit 25 schon anfangen könnte? Was möchte ich zwischen dem Alter von 20 und 30 machen – außer nichts? Wir finden uns nicht selbst, indem wir uns treiben lassen und über die Liebe und das Leben philosophieren. Wir sind wir selbst, wenn wir die Dinge tun, von denen andere sprechen. Wenn wir aktive Entscheidungen fällen und unser Leben gestalten.

Was man in den Zwanzigern nicht macht, macht man in den Dreißigern auch nicht mehr.

Die Psychologin Meg Jay hat sich auf Millenials spezialisiert. Sie hält Therapiesitzungen mit Mitzwanzigern ab, deren Probleme sich um die gleichen Dinge kreisen: Liebe und Lebensentwürfe. Um aus dem Teufelskreis herauszukommen, spricht Meg Jay von Identitätskapital. Die Aneignung besteht darin, in Tätigkeiten und Dinge zu investieren, die einen für die Zukunft formen und weiterbringen. Eine Investition in das Zukunfts-Ich, wenn man so will.

„Identitätskapital schafft Identitätskapital“, sagt Jay, was bedeutet: Jetzt ist es an der Zeit, das Praktikum wahrzunehmen, das Start-Up zu gründen, die Weltreise anzutreten, den Städtewechsel anzupacken. Diesen einen Schritt zu wagen, vor dem man womöglich Angst hat, und der einen formt, um einen Selbstläufer anzustoßen. Stichwort: Dominoeffekt.

Explore the world – and make it count. Das hat auch schon Jack in Titanic gesagt und vielleicht geht unser Schiff ja nicht unter, weil wir das Steuer selbst in der Hand haben.

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7 Antworten zu “Kolumne: 30 ist NICHT das neue 20”

  1. Schöner Artikel, Amelie.
    Fällt mir noch ein blödes Wortspiel ein, dass mir in der Sekunde in den Sinn kam – Generation Praktikum ist nach der Definition eher eine Generation Theoretikum :)
    Und ja, aufschieben nutzt gar nichts – ausser dass am Ende Frust entsteht, über das Leben, wie es nie wieder sein wird (weil es ja nun vorbei ist). So aus der Sicht einer Hundertjährigen.
    LG Ava

  2. Ein wunderbarer Beitrag… aber die „Generation Praktikum“ oder wie man sie auch immer in der Zwischenzeit nennt – das ist eine ganz schlimme Zeit. Ich habe nach dem Studium einen 9to5-Job angenommen und arbeite immer noch in diesem (wenn auch nicht mehr im gleichen Unternehmen). Ich bin darauf angewiesen, ja – denn die „Schulden“ aus dem Studium wollen zurückbezahlt werden und man will schnellstmöglich auf eigenen Beinen stehen. Heute habe ich es geschafft, die Gelder vom Studium sind zuückbezahlt und es fühlt sich gut…

  3. Wie alt bist Du noch mal?
    Ich hab mit 15 auch gedacht, dass ich mit 25 schon angekommen bin. ..Bist Du das denn wirklich?
    Lass uns doch in 10 Jahren Deine Efahrungen dazu wissen, falls es den Artikel, oder amazed nicht. Nicht weil Ihr nicht super seid, aber wer weiß was alles so noch kommt?!

    • Liebe Toni, ich versteh deinen Kommentar leider nicht ganz. Was willst du mir denn damit sagen? Also ich werde 26 und ich sage nicht, dass ich angekommen bin. Darum geht es eigentlich gar nicht in dem Beitrag :). Es geht eher darum, sein Leben zu leben und nicht zu stagnieren. Liebe Grüße!

      • Upsi. hab deinen text einfach als feministische betrachtung, von dem spruch gelesen.
        dann hast du recht. leben genießen und immer sein für neues. liebe grüße

  4. Richtig Amelie, viele schaffen sich in den 20ern das, was sie in den 30ern gerne machen/sein wollen.dafür muss man aber oft sehr viele Einbußen hinnehmen, was bedeutet, dass man mit 30 zwar vielleicht beruflich da ist wo man gern sein möchte, aber vieles nicht gemacht hat, weil es einfach nicht möglich war. von 10 verschleuderten Jahren auf dem Weg zur Selbstfindung leider weit gefehlt. daher ist 30 das neue 20. also für mich, für meinen Freund, für viele meiner Bekannten und Freunde. weil wir in den 20ern primär mit arbeiten und lernen beschäftigt waren.

    Nur wenige haben das Glück genau das, was sie machen wollen schon in einem sehr jungen Alter zu machen. Glückwunsch dazu!

    Wir leben dann halt doch erst mit 30 das Leben, das wir jetzt haben…

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