Toxic Travel Trend: Wenn Reisen zum Selbstwert-Thema wird

24. Januar 2024 von in ,

Dieser Artikel ist das erste Mal im Juni 2023 erschienen.


Louisa Wölke ist freie Autorin und Texterin aus Hamburg. Sie bezeichnet sich selbst als absoluten Gefühlsmensch, der es nicht nur liebt, in der Natur zu sein oder neue Orte zu entdecken, sondern den es als Nordlicht immer wieder in den Süden zieht. Am liebsten verbringt sie die Zeit mit sich, setzt sich mit moderner Spiritualität auseinander oder sucht Inspiration in Gesprächen mit Freunden und Familie. Für amazed blickt sie auf das Leben als Single in der Großstadt. 

Vier Wochen Workation in Südafrika, sechs Monate Sabattical in Asien, Sommerurlaub in Mexiko, Roadtrip durch die USA oder Abenteuerurlaub auf Island. Wir wollen überall sein. Hauptsache nicht zu Hause. Dort, wo Alltag, Langeweile und Trott beheimatet sind. Wir wollen Neues erleben, fremde Kulturen kennenlernen, die Reiseziele auf unserer Bucket List und der Weltkarte an unserer Wand abhaken. Mit der Zahl der bereisten Länder brüsten sich nicht wenige in ihren Tinder-Profilen und unsere nächsten Reisepläne sind Thema Nummer eins beim Treffen mit Freund*innen und Bekannten. Ganz zu schweigen von Social Media. Man muss nicht lange durch seinen Feed scrollen, um das Gefühl zu bekommen, dass das Leben der Anderen sich überall dort abspielt, wo Sonne, Strand und Palmen zur Standardkulisse gehören und wo der Stellplatz für den selbst ausgebauten Bulli möglichst pittoresk scheint.

Ich persönlich habe das Gefühl, dass Reisen mittlerweile zu einer Art Wettbewerb geworden ist.

Natürlich sind wir Menschen schon immer gern gereist, um unserer Neugier, dem Ruf des Unbekannten nachzugehen. Doch heute – nach Corona ist dabei mittlerweile wieder exakt wie vor Corona, was die Selbstverständlichkeit von Reisen angeht – bedeutet Reisen viel mehr. Es ist vermeintliches Indiz für den gesellschaftlichen Status und den Charakter einer Person. Anhand ihres Reiseverhaltens stecken wir Menschen nicht selten in Schubladen. Bin ich abenteuerlustig, offen und aktiv, oder stehe ich auf Routinen, bin eher verschlossen und mag das Bekannte? Wer „nur“ den alljährlichen Nordseeurlaub macht, in die Berge hinter der deutschen Grenze fährt oder gar seine freien Tage zu Hause verbringt, fällt im Travel-Ranking ganz nach unten. Selbst Wiederholungstäter:innen, die gern Jahr für Jahr an denselben Ort, ob Mallorca oder Dänemark, zurückkehren, können nicht mithalten und werden schnell als „Langweiler:innen“ abgestempelt, die nichts von der Welt gesehen haben. Denn in Zeiten von Remote Work und neuer Priorisierung des Privatlebens – no Offense, ich bin absolute Unterstützerin – gibt es doch eigentlich keinen Grund mehr, im Alltag zu verweilen. Oder?

Sicher, auch ich mag das Reisen. Neue Orte, fremdes Essen, Natur und Traditionen entdecken. Trotzdem hat Reisen für mich einen etwas anderen Stellenwert. Wie für viele andere ist auch für mich natürlich der finanzielle Aspekt beim Reisen nicht ganz unwichtig. Wenn ich mein Umfeld so beobachte, frage ich mich doch manchmal, ob heimliche Lottogewinne oder krasse Beförderungen in Umlauf sind, bin ich doch schon froh, wenn ich mir einen richtig schönen, längeren Urlaub pro Jahr leisten kann. Ein weiterer – und wahrscheinlich der ausschlaggebende – Grund, warum mein Reiseverhalten sich unter Umständen von der Norm abhebt, sind meine ziemlich ausgeprägte Flugangst und ein dadurch stark begrenzter Reiseradius. Und mit der Bahn Tausende Kilometer durch Europa zu fahren, eignet sich nicht unbedingt für ein Leben als Dauer-Traveller.

Zum anderen war es für mich aber auch schon immer normal, einen, vielleicht zwei Urlaube im Jahr zu machen und den Großteil der restlichen Zeit zu Hause zu verbringen.

Als Kinder haben meine Schwester und ich nach zwei Wochen Urlaub den Rest der Sommerferien im Garten gespielt, Ausflüge gemacht und auf der Wiese hinterm Haus gezeltet. Damals wie heute war und ist es normal für mich, auch die Ferien- bzw. Urlaubszeit in der Heimat zu verbringen. Vielleicht habe ich auch deshalb einen so ausgeprägten Bezug zu meinem Zuhause. Doch was bedeutet Zuhause für mich?

Für mich ist mein Zuhause der Ort, an dem ich am liebsten bin. Mein Safe Space, der Ort, an dem ich runterkommen und an den ich immer zurückkommen kann. Der Ort, an dem ich zu 100 Prozent ich selbst sein kann.

Auch heute verbringe ich noch jedes Jahr einen Teil meines Urlaubs zu Hause. Und ich lieb’s. Endlich mal Dinge tun, zu denen man sonst nicht kommt, in den Tag hineinleben, mitten in der Woche Frühstücken gehen. Meiner Meinung nach kann man auch zu Hause eine Pause vom Alltag einlegen. Passiert das nicht sogar automatisch, wenn wir nicht arbeiten, sondern 24 Stunden in unserem Privatleben verbringen können? Ich für meinen Teil fühle mich im Urlaub zu Hause manchmal ein bisschen wie eine – zugegebenermaßen stark gedrosselte – Version einer Frau der oberen Zehntausend (Achtung, Klischee ohne Gewähr). Morgens schon zum Beauty-Termin, Sport mitten am Tag, danach Kaffeetrinken und den städtischen Trubel beobachten und abends völlig stressfrei zum Dinner mit Freund*innen – denn ich kann am nächsten Tag ja ausschlafen. Sein Leben zu Hause auch mal auf diese Weise zu leben, ist für mich definitiv kein Alltag, sondern Erholung pur.

Doch in mir schlagen zwei Herzen. Das zweite hat irgendwann erfahren, wie toll es sein kann, die Welt zu entdecken. Denn nachdem ich die Hälfte meines Lebens an Nord- und Ostsee verbracht hatte – was definitiv auch schön ist –, habe ich es für einige Jahre geschafft, meine schon damals existente Flugangst in den Griff zu bekommen. In dieser Zeit standen auf meinen Baggage-Tags regelmäßig Ziele wie Bangkok und Kapstadt, Amalfiküste und Mallorca. Noch heute hallen die Erinnerungen dieser Reisen in mir nach. Also frage ich mich natürlich:

Was wäre, wenn diese lästige Angst, die mich davon abhält, ein Flugzeug zu besteigen, nicht meine Begleiterin wäre?

Wenn auch ich völlig flexibel meinen Urlaub buchen und voller Vorfreude über den Wolken der Auszeit im Paradies entgegenfiebern würde? Würde ich dann trotzdem so gern meine Zeit zu Hause in Hamburg verbringen? Oder rede ich mir das Ganze nur ein? Vielleicht habe ich dieses Gefühl nur entwickelt, weil ich keine andere Wahl habe?!

Heute plane ich meine Reisen danach, ob es eine gute Bahnverbindung gibt. Ich weiß, das ist prinzipiell nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Mein ökologischer Fußabdruck dankt es mir. Und auch, wenn natürlich grundsätzlich viele tolle Destinationen – zumindest innerhalb Europas – mit dem Zug erreichbar sind, überlege ich mir bei meiner Reiseplanung zweimal, ob sich die Reisedauer in Hinblick auf die Reisezeit wirklich lohnt. Und da ist sie wieder, die Einschränkung. Ein Gefühl, das irgendwie nicht cool ist, streben wir doch alle eigentlich nach Freiheit und Selbstbestimmung. Ist es genau dieses Gefühl, das mich – vielleicht aus Selbstschutz – glauben lässt, dass ich doch eigentlich ganz glücklich bin, hier in meiner heimischen Wohlfühl-Bubble?

Bin ich ehrlich zu mir selbst, glaube ich, dass auch ich wohl etwas anders reisen würde, wenn ich könnte. Doch ich kann nicht.

Und auch, wenn der*die ein*e oder andere jetzt denkt ‚Mach doch einfach. Es liegt in deiner Hand‘: Ich kann nicht. Das können wohl nur Menschen nachvollziehen, die selber schon einmal unter einer irrationalen Angst gelitten haben. In mir sträubt sich alles dagegen. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte mir keine Reise der Welt so wichtig sein, als dass ich dafür dieses Gefühl der Angst auf mich nehmen würde, das ich meinem*r schlimmsten Feind*in nicht wünsche.

Ich finde mich also mit meiner Situation ab. Behaupte ich zumindest. Doch warum fühle ich mich dann manchmal so schlecht, wenn ich höre, wohin meine Freund*innen bald schon wieder reisen? Warum wiege ich selbst meinen Urlaub in den Bergen gegen die Workation der*s Kolleg*in in Südafrika auf und komme mir dabei minderwertig vor? Ist es, weil ich mir selbst eigentlich etwas anderes wünschen würde? Weil mein Selbstwertgefühl diesem Vergleich nur schwer Stand hält? Weil ich denke, dass ich weniger posh, kultiviert oder gesellschaftlich relevant bin? Oder ist es purer Neid?

Selbst beim Dating verfolgt mich dieses „Defizit“, als das ich mein Reiseverhalten selbst oftmals empfinde. Wie anfangs schon erwähnt, ist Reisen auf den gängigen Dating-Plattformen ein gern gewähltes Thema für den Gesprächseinstieg. „Wo machst du am liebsten Urlaub?“, „Ich möchte unbedingt eine Weltreise machen“, „Welcher Ort steht auf deiner Bucket List ganz oben?“ und „The world is my home“ sind nur einige der Aufhänger, die in mir direkt den Grübelapparat anschmeißen. Kann das überhaupt funktionieren? Das matched doch eh nicht. Ich kann mit einem Menschen, der gerne reist, einfach nicht mithalten, ihm nicht das bieten, was er sich wünscht. Okay, I‘m out. Aber unterschätze ich mein (virtuelles) Gegenüber da vielleicht? Oder liege ich gar nicht so falsch mit meiner Vermutung, dass das Thema Reisen existenzielle Grundlage vieler Menschen und somit auch für Beziehungen ist?

All das ist es, was den immer stärker wachsenden Travel Trend für mich hin und wieder toxisch wirken lässt.

Müssen wir Menschen über ihre Art zu reisen, die Zahl der bereisten Orte und ihre kulturellen Erfahrungen in anderen Ländern definieren? Können wir Urlaub nicht einfach als einen Luxus betrachten, für den wir, egal in welchem Umfang wir ihn leben können, dankbar sind? Können wir unser Zuhause als etwas Wertvolles akzeptieren, das ebenso das Potenzial zum Lieblingsort hat? Vielleicht können wir das ja sogar und all meine Gedanken dazu, die Vorurteile, der Druck und die Bewertung sind nur in meinem Kopf.

Ich habe zumindest für den Moment meinen Umgang damit gefunden und das Glück, mich in meinen vier Wänden und in einer Heimat sehr wohlzufühlen. Es ist okay, so wie es ist. Trotzdem freue ich mich schon jetzt auf meinen nächsten Urlaub. Das Ziel steht noch nicht fest. Klar ist nur, ich werde mich mit dem Zug auf den Weg machen. Doch wer weiß, vielleicht werde auch ich die Welt irgendwann wieder von über den Wolken betrachten und wieder eine andere Beziehung zum Reisen aufbauen. Der Wunsch ist in mir, das spüre ich deutlich.

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