YOUR VOTE: Meinungsfreiheit

26. Juli 2017 von in ,

Wir schreiben das Jahr 2005. Wir sitzen wie jedes Wochenende im Keller bei einem meiner besten und ältesten Freunden Andi in Aschheim, dem Nachbardorf meiner Heimat und trinken Wein und Bier. Wir sind im Landkreis und was soll man auch sonst machen, als mit seinen besten Freunden herumsitzen – da herrscht höchstens saisonaler Umgebungswechsel. Im Sommer draußen, im Winter drinnen. Und drinnen bedeutet: der Keller vom Andi. 

Man kann dort nicht viel machen als sitzen und trinken, was mit absoluter Sicherheit in politischen Diskussionen endet. Die beobachtete ich damals beeindruckt, denn Andi war der einzige, der es schaffte, jeder politischen Auseinandersetzung mit leidenschaftlicher Ausdauer beizuwohnen. Sarkastisch wie er ist, selbstironisch, mit ungeheurem Allgemeinwissen und Empathie für sein Gegenüber hatte keiner jemals eine Chance gegen ihn. Kein Wunder also, dass er sich nach seinem Abitur für den Studiengang Politikwissenschaften entschied. 

Außerdem kein Wunder, dass wir für unsere kommende Politik-Strecke YOUR VOTE hinsichtlich der anstehenden Bundestagswahlen, Andreas Bichler für uns gewonnen haben. Dieser sitzt seit 2009 in der SPD, schlägt sich nebenbei noch mit Themen bezüglich Verwaltungsrecht, Baurecht und Umweltrecht herum und bleibt dabei wie gewohnt souverän. Andi erklärt uns in der sechsteiligen Strecke YOUR VOTE das Wahlsystem, stellt die wichtigsten zu wählenden Parteien vor und wird uns humoristisch und simpel rundum mit Politik- und Wirtschaftswissen aus Deutschland und Europa nähren.

DANKE, ANDI! Und bitteschön: 

Es herrscht Aufruhr in einer meiner politisch etwas linkslastigen Whatsapp-Runden: Der Bundestag hat die Ehe für alle beschlossen! Mit diesem Thema könnten wir endlich mal wieder viral gehen – und nebenbei noch ein bisschen Abgrenzung zum örtlichen Bundestagsabgeordneten zu betreiben, der gegen die Öffnung der Ehe gestimmt hat (welcher Partei er angehört, ist anybody’s guess). Wir debattieren also fröhlich unseren medialen Schlachtplan – da meldet sich einer unser neueren Kollegen zu Wort: Er fände es nicht richtig, den Abgeordneten so direkt für sein Stimmverhalten anzugreifen. Wenn jede*r Abgeordnete auf diese Weise zur Rechenschaft gezogen würde, schränke das die Meinungsfreiheit ein. Und überhaupt könne man doch nicht guten Gewissens für das Adoptionsrecht für Homosexuelle sein. Immerhin könnten sich dann doch auch zwei Pädophile ohne Weiteres ein Kind besorgen!

 Als links-liberal-progressiver Millennial ernsthaft diese Ansicht vertreten?

Ich lese diesen Post einmal, zweimal, zig Mal. Zuerst lache ich. War das jetzt besonders geschmacklose Ironie? Nur langsam sickert durch, dass der Typ es ernst meint. Also ist mal wieder einer der kruden These von der Verbindung zwischen Homosexualität und Pädophilie – tausendmal von den selbsternannten „Dissidenten“ der Identitären/Neuen Rechten etc. hinausposaunt, genauso oft wissenschaftlich zerpflückt und daher eigentlich vollkommen lächerlich – auf den Leim gegangen. Aber als links-liberal-progressiver Millennial ernsthaft diese Ansicht vertreten? Kann nicht sein, der Gute hat wohl ernstere Probleme. Also Therapie oder AfD, Problem gelöst.

Trotzdem, den ganzen restlichen Tag habe ich das Bedürfnis, meinen Kollegen niederzubrüllen. Warum rege ich mich immer noch so auf? Weil mich eine Sache noch viel wütender macht als sein homophobes Gewäsch (und zeigt, dass ich meine Prioritäten vielleicht neu ordnen sollte): das Verständnis von Meinungsfreiheit, das dieser Typ an den Tag legt. Natürlich darf bzw. muss ich einen Abgeordneten, der mich vertritt, für sein Stimmverhalten (auch eine Art von Meinungsäußerung), das meiner Anschauung widerspricht, kritisieren und argumentativ auseinandernehmen!

Also wieder einer dieser Menschen, die „Zensur!“ schreien, sobald ich sage: „Diese und jene Meinung passt mir nicht, aus diesen und jenen Gründen.“ Das ist keine Zensur, sondern der Kern der Meinungsfreiheit: Ich kann (abgesehen von gröbster Beleidigung) in die Welt posaunen, was ich will, muss aber auch mit dem „Backlash“ der Andersdenkenden leben – unter der Voraussetzung, dass er zwar emotional, aber zumindest einigermaßen sachlich daherkommt. Ist aber müßig, diesem Typen so etwas Kompliziertes zu erklären…

Ich kritisiere jemanden für seine naive Vorstellung von Meinungsfreiheit, aber seine Äußerung wische ich als offensichtlich lächerlich und daher nicht „widersprechenswert“ vom Tisch?

Dann fangen meine Freunde an, die „Argumentation“ unseres Kollegen zur Ehe für alle auseinanderzunehmen – kurz, aber deutlich und offensichtlich effektiv, denn der Gute ist fortan ziemlich einsilbig – und ich überlege weiter: Ich kritisiere jemanden für seine naive Vorstellung von Meinungsfreiheit, aber seine Äußerung wische ich als offensichtlich lächerlich und daher nicht „widersprechenswert“ vom Tisch?

Dabei ist es genau diese Trägheit im Umgang mit missliebigen Ansichten, durch die es sich Menschen in ihrer Rolle als Opfer eines „intoleranten“ Mainstreams bequem machen können. Wenn nicht einmal mehr politisch engagierte Menschen argumentative Auseinandersetzung praktizieren: Darf ich mich dann darüber aufregen, wenn der öffentliche Meinungskampf degeneriert und die Leute jeden Mist als werthaltige Meinung weitergeben?

Blöd, wenn man die eigenen Spielregeln nicht einhält und der „moral high ground“ weg ist… andererseits bin ich jetzt wieder ruhiger. Und für das nächste Mal nehme ich mir vor: etwas weniger „Ab mit seinem Kopf!“ und etwas mehr „Was du sagst, ist Müll, weil…“. Die größten Wirrköpfe lassen sich zwar nicht überzeugen, aber vielleicht lernen wir wieder, richtig zu diskutieren. Das ist zwar anstrengend, aber im Ergebnis doch recht positiv.

Und vielleicht werden dann auch die Talkshows wieder besser – oder überflüssig. Ein Traum!

Photocredit: PlantsonPink, Pinterest, Auge

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3 Antworten zu “YOUR VOTE: Meinungsfreiheit”

  1. Erst ein Mal, Chapeau, für diese Reihe, liebes Amazedteam!
    – Da ich leider wirklich emotional beim Thema Politik werde,
    reagiere ich auch häufig mit diesem „Kopf abschlagen“ Gefühl
    und weniger mit echten Argumenten, gerade wenn ich meine,
    mein Gegenüber habe sowieso nicht mehr alle Murmeln beisammen.
    Aber das gerade hier das (ruhige, sachliche) Argumentieren gefragt
    ist, das sollte ich mir auch öfter zu Herzen nehmen. Statt einfach
    solche Aussagen stehen zu lassen oder sie lauthals wegzuhauen,
    die eigene Argumentationsfähigkeit trainieren..
    Merci für den Reminder!

  2. Ja, ich bin auch absolut dafür, dass man seine Wirklichkeit nicht immer für die aller halten sollte.

    Jeder kann seine Meinung haben und manchmal gibt es für deren Meinung auch gute Gründe.
    Einmal mal danach fragen – WARUM das jemand denkt, anstatt draufzukloppen, auch wenn man denkt, man sei im Recht. Denn „im Recht“ sein – was heisst das schon.
    Das ist der andere nämlich auch.
    Perspektivwechsel kann sehr wohltuend sein und Ignoranz ist, wenn man’s ignoriert, dass es auch anders denkende gibt und das aus oft guten Gründen.

    Leben und leben lassen.
    Meinungsfreiheit heisst, auch unbequeme Sachen aushalten zu können.

    Lieber Gruss
    Ava

  3. […] Andi Bichler ist studierter Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD. Er kennt sich in unserem Freundeskreis wohl wie kein anderer in Sachen Politik aus – und kann auch noch schreiben. Für uns ein Jackpot, denn er erklärt uns bis zur Bundestagswahl am 24. September 2017 alles wichtige rund um die Wahl, die wichtigen Themen der einzelnen Parteien sowie unser Wahlsystem.  […]

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