Eine ganz besondere Kollektion

2. Juni 2013 von in

Es ist einer dieser Ausflüge. Die, an die man sich immer und immer wieder erinnern wird. Weil sie ganz besonders toll waren. Oder weil etwas großes entstand.  Lisa Polk und Christian Schinnerl machen sich im Mai 2012 auf den Weg nach Antwerpen. Dort wollen die beiden Münchner eine Modenschau besuchen. Auf dem Weg dahin quatschen sie über Gott und die Welt. Bis Christian von seinem Onkel erzählt. Er hat Trisomie 21. Lisa kennt das Down-Syndrom. Ihre Mutter hat jahrelang in einer Behinderteneinrichtung gearbeitet. „Wir sprachen darüber, dass es so schade ist, dass Behinderte oftmals richtige Schwierigkeiten haben, tolle Klamotten zu bekommen“, erinnert sich die 28-jährige Modedesignerin im Gespräch mit amazed. Und plötzlich war sie da. Die Idee. „Wir entwerfen Hemden für Menschen mit Trisomie 21.“

Menschen mit Behinderung kommen in der Welt der Mode kaum vor. Einzelfälle wie der des männlichen Starmodels Mario Galla aus Deutschland sind die große Ausnahme. Lisa Polk und Christian Schinnerl sehen das zum Glück ganz anders.  Mit ihrer Hemdenkollektion Hemdless haben sie eine Kollektion eigens für Menschen mit Trisomie 21 entworfen. „Integration fängt doch auch bei der Kleidung an, also warum nicht coole Klamotten für Menschen mit Trisomie 21?“ Die Kollektion ist speziell auf die Anatomie der Behinderten zugeschnitten. Ein größerer Kragenausschnitt, längere Ärmel sowie ein kürzerer Rumpf.

Wieder daheim machen sich Lisa und Christian sofort an die Arbeit. Sie recherchieren – und erfahren: Bis zu 50.000 Menschen mit Trisomie 21 leben mit nicht passenden Hemden in Deutschland. Das bestärkt die Freunde für ihr Projekt. Gemeinsam fahren sie nach Steinhöring bei München. Der frühere Arbeitsplatz von Lisas Mutter. Der Leiter des Wohnheims, Jürgen Rossmann, ist sofort vom Projekt begeistert – und unterstützt die beiden Designer. Er fragt sich im Wohnheim durch und findet fünf interessierte Bewohner:  Veronika, Jimmy, Johannes, Ingo und Martin werden die perfekten Models für Lisa und Christian. Gemeinsam nehmen die zwei Freunde Maß, kreieren individuelle Hemden. Berührungsängste haben die  jungen Modedesigner, die sich während ihrer Zeit auf der Meisterschule für Mode kennengelernt haben, nicht. Im Gegenteil: „Es hat wahnsinnig Spaß gemacht. Je länger wir zusammen gearbeitet haben, umso normaler sind wir miteinander umgegangen“, erinnern sich die beiden. Die Models sind am Anfang furchtbar aufgeregt, dürfen sich das erste Mal in ihrem Leben ihr eigenes Hemd aussuchen. Lisa und Christian fahren innerhalb eines halben Jahres neben ihrer normalen Arbeit immer wieder hin. Zeigen ihnen Stoffmuster. Farben. Jeder wählt sein Wunschhemd aus. „Einer hat sich ein Hemd ohne Ärmel gewünscht, also haben wir das geschneidert“, sagt der 23-jährige Christian.

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Der Stil der Hemden ist sehr modern, maßgeschneidert für die fünf Models. „Wir haben bei diesen Hemden mit demselben Design-Anspruch gearbeitet wie sonst auch“, sagt Lisa. Die Hemden sollten nicht nur passen, sondern eben auch dem modischen Zeitgeist entsprechen, ästhetisch sein.

Je ‘normaler‘ ein Mensch der Umwelt erscheint, desto eher wird er integriert, kann Inklusion erleben. „Passende“ Kleidung spielt dabei eine wichtige Rolle!
Jürgen Rossmann, Gesamtleiter des Wohnheims Steinhöring

Für den Namen der Kollektion wählen sie nach vielen Überlegungen Hemdless. Eine Anspielung auf den Fakt, dass es keine Hemden für Menschen mit Trisomie 21 gibt. Dass sie quasi „hemdlos“ sind. Ein passender Name.

Die Zeit des Hemdless-Projekts ist anstrengend, beide Modedesigner arbeiten neben ihren regulären Aufgaben an der Kollektion. Doch die Arbeit lohnt sich. Am Ende steht die Kollektion. Mit den Hemden im Gepäck geht’s ein letztes Mal nach Steinhöring. Der große Tag steht bevor: das Modeshooting.  „Wir haben mit all unsere Models ein Lookbook gemacht“, sagt Christian. Für die Menschen mit Trisomie 21 ein aufregender Tag. Ein Hair- und Make-Up-Artist  kümmert sich um die fünf Models, ein Profi-Fotograf schießt die Fotos. „Es war ein sehr sehr lustiger und toller Tag“, erinnert sich Lisa. Danach schenken sie den Models ihre maßgeschneiderten Hemden.

Die Resonanz auf die Kollektion ist sehr positiv. Nicht nur bei den Models, auch bei Familie und Freunden. „Anfangs waren manche skeptisch, weil sie sich das ganze gar nicht vorstellen konnten“, sagt Christian. Doch als sie die Bilder zeigen und über die Kleiderproblematik für Menschen mit Trisomie 21 aufklären, bestärken alle die beiden Modedesigner.
Als nächstes will Christian Schinnerl seinem Onkel eine Freude machen. Ihm ein maßgeschneidertes Hemdless-Hemd schenken. Ob Hemdless eine Zukunft hat, wissen die beiden nicht. Es hängt davon ab, ob die beiden einen Sponsor finden. Man könnte sicherlich eine Konfektion für Menschen mit Trisomie 21 aufstellen. „Wir sind Designer, aber wir würden gerne mit jemanden zusammenarbeiten, der die finanziellen Mittel hat, das Projekt ins Rollen zu bringen und mit dem man sich gemeinsam um die Produktionswege kümmert.“  Um viele weitere Menschen mit Trisomie 21 zum Strahlen zu bringen.

Alles zum Projekt von Lisa und Christian erfahrt ihr auch auf www.hemdless.de.

Photocredits: Phil Pham(7), Clemens Krüger (6)

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15 Antworten zu “Eine ganz besondere Kollektion”

  1. Oh ich liebe den Artikel, wirklich gut geschrieben und ein ganz tolles Thema.
    Das zeigt wieder mal die Vielfältigkeit von Mode und zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht, weil mir Integration von behinderten Menschen so unglaublich wichtig ist und das eben auch im Kleinen beginnen kann. Für ein Menschen mit Trisomie 21 ist es eben auch schlimm, dass er nirgendwo passende Kleidung findet, sicherlich nur eine Banalität im Vergleich zu anderen Problemen, aber auch an solchen Dingen muss in der Gesellschaft gearbeitet werden und deshalb ist das ein ganz tolles Projekt!

  2. Wow, absolut tolles Projekt!
    Jetzt fehlt nur noch eine ganze Kollektion und nicht nur Hemden… also wirklich eine klasse Idee. Daran, dass Menschen mit Trisomie 21 einen ganz anderen Körperbau haben, denken die meisten wahrscheinlich überhaupt nicht… und natürlich möchte jeder, egal ob krank oder gesund, behindert oder nicht behindert, schwarz oder weiß, klein oder groß schöne und passende Klamotten tragen! :)
    http://coco-colo.blogspot.de/
    coco

  3. Das ist ein toller Artikel! Ich finde es klasse das du das Projekt vorstellst, abgesehen von dem warmen Gefühl welches das Engagement der jungen Designer bei mir hervorruft, finde ich die Sachen sehr schön. Das blaue Hemd beispielsweise, mit den integrierten „Hosenträgerhaltern“ : clever & superchic!♥

  4. abgesehen davon, dass der artikel an sich sehr spannend ist, bin ich immer wieder still beglückt, deine artikel zu lesen, weil sie so unaufgeregt gut geschrieben sind. das bewundere ich sehr.

  5. warum sind nur Hemden gefragt?
    Mein Sohn hat Trisomie 21. Die Hosen sind zu lang und er mag keine Knopfhosen.
    Also bekommt er eine Damenschlupfhose.
    Die Årmel von Jacken und Pullis sind meist auch zu lang.
    Er stūlpt sie sie dann hoch.
    Ich finde es gut, was Sie da entwerfen.

    Grūsse Brigitte

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