Kolumne: Stadtflucht

30. Mai 2018 von in

Es ist ruhig. So ruhig. Ich blicke auf das Wasser, ein paar kleine Fische tummeln sich unter meinen Füßen. Der See ist noch frisch, in ein paar Wochen wird er warm genug sein, dann ist es auch vorbei mit der Ruhe. Die Touristen stürmen den See, erobern die Fraueninsel und besuchen das Schloss von König Ludwig. Doch jetzt, an diesem sonnigen April-Tag, ruht der See noch. Nur ein, zwei mutige Seebewohner wagen sich ans Wasser, der Rest sitzt im Café und genießt die Sonne. Ich beobachte die Enten, ein paar kurze Fotos, dann verschwindet das Handy wieder in meiner Tasche. Einfach eintauchen, in diese Ruhe, Luft holen.

Ich bin am Land aufgewachsen. In einer Kleinstadt inmitten von Oberbayern, am Rande des Chiemgau. Der Chiemsee, Traunstein oder das Berchtesgadener Land waren unsere Ausflugsziele, ein kleiner See inmitten eines Waldes unser Sommer-Schwimmbad. Jeder kannte jeden. Was ich als Teenager genoß, nervte irgendwann. Mit Anfang 20 war nicht nur allein aus beruflichen Gründen für mich klar: Ich muss hier erstmal raus, ab nach München.

Nun kann man sowieso sagen: München ist ein Dorf. Denn so richtig riesig ist diese Stadt nun wirklich nicht, allein mit dem Fahrrad kann man alles erobern, was man sehen will – und zwar in einem halben Tag. Und doch, für das Landkind war München groß genug. Zu Beginn glich es für mich nahezu einem Kulturschock, wenn ich sonntagmorgens auf die Straße ging und immer irgendwer auch unterwegs war. Man ist nie allein, man sieht immer jemanden, erzählte ich überrascht meiner Familie.

München ist definitiv die softe Form der Großstadt. Vielleicht die Großstadt für Landeier. Denn ohne es zu bemerken, schaffte ich mir meinen eigenen kleinen Dorfcharakter. In meinem Viertel kenne ich die Bäckersfrau, mit dem Radlladen-Besitzer bin ich per Du und mein Hermes-Boten-Shop-Verkäufer und ich tauschen uns regelmäßig übers Leben aus. In meinem Garten sehe ich nachts den Sternenhimmel, das viele Grün lässt mich kurzzeitig ein bisschen Natur spüren. Heißt es abends, „lasst uns in Schwabing treffen?“ gleicht das Ganze für mich fast einer Weltreise. Ich muss mein Dorf der Isarvorstadt verlassen. Quasi einen Ausflug machen. Schnell war auch eine Bar gefunden, in der man nach und nach jeden kannte. Man kann sein Dorf also überall schaffen – eine großartige Erfahrung.

Ich liebe München für seinen Dorfcharakter, für seine Viertel und für die Möglichkeit, sich seine eigene kleine Welt zu schaffen. Denn ohne wäre ich wohl schon längst eingegangen. Denn Landkind bleibt eben Landkind. Und trotzdem: Zur Ruhe kommen ist hier sehr viel schwerer. Wer an einem sonnigen Samstag raus an die Isar will, muss weit fahren, um allein zu sein. Wer sonntags an den Starnberger See düst, steht erstmal im Stau oder mit hundert anderen im Zug. Es ist alles schneller, hektischer, lauter. Deine Aufmerksamkeit wird permanent gefordert, ohne dass du danach fragst. Dieser Wirbelwind treibt an, aber er saugt auch aus.

Wie sehr mir manchmal die Ruhe fehlt, habe ich im April bemerkt. Um endlich wieder gesund zu werden und von Mama liebevoll umsorgt zu werden, trat ich die Stadtflucht an. Gefühlt ein kurzer Kulturschock – denn plötzlich fand ich mich in der Dorfidylle wieder, die ich vor zehn Jahren verlassen habe. Nach dem ersten „Wow, ist es hier ruhig“ oder „Unglaublich, es hat den ganzen Tag niemand an der Tür geklingelt“ begann ich, diese Stille zu genießen. Auf Spaziergängen durch den Wald war ich komplett allein, nur die Natur und ich und vielleicht die Bauerskatze. Wenn ich keinen Menschen treffen wollte, traf ich niemanden. Statt Porsche Cayennes standen Schafe und Kühe am Straßenrand, die Straßen waren tagsüber wie leergefegt, alles ausgeflogen – arbeiten in der nächstgrößeren Stadt. Beim Bäcker war ich erst die Fremde im Dorf, irgendwann kannte man mich doch und wurde freundlicher. Die Preise sehr viel günstiger (außer in touristischen Ecken), und ich die ungläubige Großstädterin: „Wollen Sie wirklich für zwei Ingwerknollen und eine Zitrone nur 1,50?“ Amüsiert war wohl nur der Bio-Laden-Besitzer über die merkwürdige Kundin, die sich beschwerte, dass es so billig ist. Ich gewöhnte mich an die Langsamkeit, beim Bäcker wartete man auch mal 15 Minuten, weil der neuste Tratsch ausgetauscht wurde, oder der Kellner in der Pizzeria gerade eine Diskussion mit seinem Koch hatte.

Was ist, wenn Burnout nicht von der Arbeit kommt, sondern von dem Ort an dem wir leben und arbeiten? Der Stadt?

Charlotte Roche im SZ-Artikel „Verlasst die Städte“

Landleben entschleunigt, das habe ich in den letzten Monaten gelernt. Ich habe jede Sekunde aufgesogen und gemerkt: So sehr ich München liebe, meine Ruhepole liegen in der Natur. Habe ich vor zwei Jahren eine Rückkehr aufs Land vehement ausgeschlossen, bin ich mir heute nicht mehr sicher, ob nicht auch das Land eine tolle Alternative irgendwann ist. Vielleicht ist es aber auch gerade der Kontrast zwischen Großstadt und Dorf, der den Rückzug in einen der beiden Orte so verführerisch macht. Mein momentaner Traum: Von beidem profitieren. Meine Energie durch Ausflüge in die Ruhe wieder aufladen. Meine Energie aber auch nicht grenzenlos im Wirbel der Großstadt aufzubrauchen. Sondern auch hier Oasen der Ruhe suchen und bauen.

Und das funktioniert auch schon mit dem Gefühl, welches ich an jenem Tag am Chiemsee hatte. Das Handy blieb weg, Instastories waren so weit weg, meine Mama schoß ein, zwei Fotos von mir, das wars. Ansonsten genoßen wir den Moment, waren ganz im Hier und Jetzt. Konzentrierten uns auf das, was wir sahen, schmeckten, rochen und hörten. Und das geht zum Glück ja überall. Denn die Stadtflucht beginnt am Ende im Kopf.

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12 Antworten zu “Kolumne: Stadtflucht”

  1. Da hast du absolut recht! So ein Ausflug in die Natur wirkt Wunder. Gerade im Kontrast zum Großstadttrubel. Dennoch könnte und wollte ich ohne beides nicht sein… im Moment zumindest. Man soll ja bekanntlich niemals nie sagen ;)

  2. Schön geschrieben… mir geht es genauso. Das ist der Grund, warum ich nie in Berlin leben könnte und zum Glück haben auch alle Schweizer Städte ähnlich wie München Dorfcharakter. Gerade im Sommer wenn in den Grossstädten sich die Hitze in den Strassen staut, tut ein Ausflug ins Grüne und ein Sprung in den See unglaublich gut. Aber so richtig aus Land… könnte ich auch nicht… deshalb sind Dorfstädte schon nicht ganz verkehrt :)

  3. So schön geschrieben! Ich denke es liegt auch ganz viel daran, ob man in einer Großstadt oder auf dem Land groß wird.
    Hab ich während meiner Teeniezeit meine Eltern noch tagtäglich verflucht, dass wir auf dem Land leben (nur 30 Minuten S-Bahnfahrt), bin ich jetzt nach 6 Jahren Großstadt umso glücklicher wieder aufs Land zu ziehen. Allerdings bin ich nach wie vor relativ schnell in der Stadt, muss also nicht ganz verzichten.

    • Liebe Kristina,
      danke!
      Das glaube ich tatsächlich auch. Wer wirklich auf dem Land aufgewachsen ist, wird immer auch unterbewusst die Liebe zur Natur und Ruhe spüren. Und wie du sagst, es gibt ja glücklicherweise auch schöne Zwischenlösungen – ich bin gespannt, ob ich auch irgendwann aufs Land zurückkehre – mein Traum wäre ja immer noch ein Haus am See haha.

  4. Wirklich eine schöne Kolumne! Mir geht es ganz genauso. Ich genieße sehr, die kleine Großstadt München – aber das Bewusstsein ruck zuck am See, in den Bergen oder in der Natur sein zu können hilft viel. Auch mein Elternhaus auf dem Dorf in Franken ist so ein Rückzugspunkt. Ich könnte das eine ohne das andere nicht so bewusst genießen und umgekehrt :D

    • Liebe Thea, danke dir!
      Das stimmt – ich glaube, das eine kann man vor allem bewusst genießen, wenn man weiß, es gibt auch noch das andere :)
      Mir gehts da wie dir -und ich bin auch froh, hier einen Garten zu haben, der so ein bisschen Rückzugort an schönen Tagen ist – so ganz ohne Menschen hihi

  5. […] irgendwann der Stadt den Rücken zu kehren und doch aufs Land zu ziehen? Der Iconist spinnt meine Kolumne „Stadtflucht“ weiter und schreibt ein Plädoyer fürs Spießig-Sein. Warum immer cool sein, wenn die Ruhe sich […]

  6. Das kann ich eins zu eins unterschreiben! Ich lebe seit fünf Jahren in München, liebe die Stadt (vor allem auch wegen des gemütlichen Dorfcharakters) und will auch erstmal nicht hier weg.
    Einen Sommer habe ich in Berlin gearbeitet, momentan lebe ich für ein halbes Jahr in Paris. Beides schöne Städte, aber ich war selbst überrascht, wie schnell es mir zu viel wurde. Zu viel Hektik, zu viele Menschen, einfach der ganze Trubel. Ich hatte schnell das Gefühl, dass ich mal raus muss. Müchen ist da ja doch etwas entspannter.
    Ich bin auch auf dem Land aufgewachsen und wollte immer nur weg, dachte immer ich sei für die Großstadt gemacht – aber mittlerweile schleicht sich auch bei mir wieder der Gedanke ein, ob ich wirklich für immer in der Stadt leben möchte.
    Eine sehr schöne Kolumne :)

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