Nett hier, aber waren Sie schon einmal in einer offenen Beziehung?

11. Dezember 2023 von in ,

Johanna* und David*, beide 36, wohnen im Umland von München, haben ein Kind (M., 5 Jahre). Und sind seit einiger, längerer Zeit in einer offenen Beziehung. Das ist ziemlich viel mehr, als nur mit anderen zu schlafen. Johanna wird ab sofort hier von ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Thema „Offene Beziehung“ erzählen. Bei der ersten Folge geht es darum, wie die gemeinsame Reise begann!
*Alle Namen wurden zum Schutz geändert.

Im Nachhinein betrachtet ist die Entscheidung unsere Beziehung zu öffnen einer jener Schritte, die das gesamte Leben auf den Kopf stellen, verändern, transformieren. Und man kann danach auch nicht wieder einfach zum Alten zurückkehren, weil man die Welt nicht mehr durch die gleichen Augen betrachten kann. Ganz nach dem Motto: „What has been seen cannot be unseen.“

Einen Moment, bevor wir uns final entschließen, die Beziehung zu öffnen, versichern wir uns gegenseitig, dass wir es sofort abbrechen, wenn einer damit nicht mehr einverstanden ist. So machen es die meisten Paare, die ich im Laufe der Zeit kennenlerne. Die Abmachung, dass es mit nur einem Wort wieder beendet werden könnte, dass es ein „Zurück“ gibt, gibt einem das Gefühl von vermeintlicher Sicherheit und vor allem Kontrolle. Und erst sehr viel später haben wir begriffen, dass es genau so nicht funktioniert. Nicht für uns.

Das weiß ich heute, ein paar Schritte weiter. Aber lasst uns erst einmal zurückspulen, ganz an den Anfang. Als ich meinem Mann eine offene Beziehung vorgeschlagen habe. Er von der Idee nicht abgeneigt war. Und wir heute polyamorös leben.

„Warum, Johanna? Ich dachte, ihr wärt so eine Einheit!“
„Ich dachte, ihr wärt glücklich?!“
Oh man. Wie erklärt man das jetzt?

Wie kann ich erklären, dass ich meinen Mann und unser gemeinsames Leben über alles liebe, niemals aufgeben wollen würde – und doch noch etwas anderes dazu haben möchte? Nicht stattdessen, nein, on top. Wie kann ich erklären, dass ich etwas zusammenbringen, leben möchte, was eigentlich nach gesellschaftlichen Normen nicht zusammengehört? Eine stabile, gesunde Ehe und Familie, eine Partnerschaft auf Augenhöhe – und Sex, Intimität und Verbindungen mit anderen Personen? I want it all – ist das so verwerflich? Und wenn ja, warum?

Mit offenen Beziehung und Polyamorie hatten weder mein Mann noch ich bis zum Zeitpunkt der Idee Erfahrungen gemacht. Wir beide stammen aus gutbürgerlichen Haushalten und Familien, in denen uns vermittelt wurde, wie Dinge zu sein haben. Wie die Welt funktioniert. Wie man zu leben und zu lieben hat. Oder kurz: Eine Welt, in der Fremdgehen und Affären dazu gehören, offene Beziehungen aber nicht.

Bei vielen Paaren beginnt dieser Weg also nicht selten mit einem großen Knall: Mit einem Fremdflirt, einem Seitensprung, manchmal auch durch trennende Lebensumstände wie einen Umzug oder durch einen allerletzten Versuch, noch irgendwas an der gemeinsamen Beziehung zu retten.
Bei uns begann der erste Schritt auf dieser Reise mit einer Art Bestandsaufnahme unseres Lebens. Mit einem Gespräch über uns und mit der erst einmal allgemeinen Einsicht, dass sich Paar- und Liebesbeziehung mit der Zeit verändern.

Das klingt so bedacht. So rational. So einfach. So langweilig.

Was vielen nicht ahnen: Offene Beziehungen und Polyamorie müssen kein dramageladenes Nischenthema rund um bindungsscheue Tinderflorians, F*ckboys und frauenausbeutende Triads sein. Sondern können auch ein valides Konzept zu leben und zu lieben, für Einzelpersonen, Paare und Familien sein. Solange offene Kommunikation und Consent die wichtigsten Grundsteine sind. Es ist die Möglichkeit, sein Leben und seine Beziehungen individuell und offen zu gestalten. Daher heißt es auch ENM. Ethical Non-Monogamy.

David und ich sind seit über zwölf Jahren zusammen und über die Hälfte davon verheiratet. Unser Kind M. ist inzwischen 5 Jahre. Wir sind mitten in der Rush Hour des Lebens und gerade nach der Schwangerschaft und Geburt war Sex nicht unbedingt das, was im Fokus stand. Baby, Renovierung, Umzug, Jobwechsel, Aufstieg, Gründung, Corona – alles nicht unbedingt Lebensabschnitte, die unsere Libido zum Glühen brachte. Der Kontext war für mich schwierig, To Dos permanent präsent in meinem Kopf. Der Alltag war vorgegeben, getaktet. Ich lernte, dass sich das „Relationshop Escalator“ nennt. Ein Vorgehen in der hetero-mononormativen Beziehung, bei dem bestimmte Schritte der Reihe nach unterbewusst ausgeführt werden, um die Beziehung zu validieren.
Zu Deutsch: „Weil man das halt so macht!“

Aber unter all den Rollen, unter all den Schichten als Unternehmerin, Mutter, Ehefrau, Nachbarin, Tochter, da war ich auch: Eine Frau, wie ich fand in den bis jetzt besten Jahren. Erfolgreich. Gesund. Selbstbewusst. Angekommen in ihrem Körper. Das Kind wurde älter, die Freiheiten kamen wieder. Mit Mitte Dreißig fühlte ich ein Leben in mir pulsieren, eine Neugier, die gestillt werden wollte. Ich dachte mir: Ich lebe jetzt! Was geht da noch? Oder war es das jetzt?

Nachmittage bei Playdates, guter, bekannter Sex, alle paar Monate mal ein Spahotel-Wochenende als Paar, Essen gehen mit Freunden, Familienbesuche am Sonntag and that’s it? Dazu war ich nicht bereit. Oder was, wenn wir uns scheiden ließen, irgendwann in zwanzig Jahren? Würde ich das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben?

Ich wollte leben. Ich wollte auch mit Mitte Dreißig, Mitte Vierzig noch neue Erfahrungen machen. Neue Orte, neue Menschen kennenlernen. Kinks. Parties. Kulinarik. Architektur. Natur. Design. Fotografie. Lust. Alles erweckte mein Interesse. Das Leben wollte einen ausgeben und das wollte ich sehen.

David und ich sprachen zunächst viel über uns. Über unser Leben und wie wir es führen wollen. Unsere Partnerschaft. Unsere Freizeit. Unsere Jobs. Unseren Sex. Ich fand es so heiß. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass David und ich wirklich über Sex sprachen, nach all den Jahren. Was findest du gut, was willst du noch ausprobieren? Was hast du dich noch nie getraut zu sagen? Mit jedem Gespräch liebte ich meinen Mann noch mehr. In dieser Zeit wuchsen wir nochmal stärker zusammen als Paar.

Fühlt sich so eine Midlifecrisis an? Wenn ja, dann gerne mehr davon!

Einen Aha-Moment hatte ich dann im Sommer auf einem Festival. Ich war mit einer Freundin dort, wir bewegten uns zu wummernden Elektrobässen, neben mir ein Pärchen. Wir tauschten Zigaretten und Feuerzeug und Wasserflaschen. Wir tanzten zusammen. Ich sah sie an, über uns bunte Lichter in den Baumkronen. Sie kamen mir recht nah. Ich hätte sie gerne geküsst, beide. Aber tat es natürlich nicht. Ich fuhr nach Hause. Nicht frustriert, aber nachdenklich.

Am nächsten Morgen fuhren wir als Familie ins Legoland. Am Abend saß ich mit David am Esstisch, wir tranken Wein und spielten Karten.
Ich kämpfte mit mir und meinen Vorstellungen. Mit meinem schlechten Gewissen. Wie konnte ich das wollen, wenn ich meinen Mann und mein Leben so sehr liebte? Fehlte mir insgeheim nicht irgendetwas? Ich hörte Podcasts, folgte Instagram-Accounts und las zuallererst das Buch „Sex at Dawn“, das ich bis heute am liebsten jedem Menschen dieser Welt in die Hand drücken würde. Irgendwann fiel der Groschen. Natürlich fehlte mir etwas – und es war ok. Es war natürlich. Kein Mensch, keine Beziehung kann all unsere Bedürfnisse erfüllen. Es zu erwarten, es zu verlangen, war verrückt!

Natürlich kann man den Körper des Partners, den man seit Jahrzehnten in- und auswendig kennt, nicht mehr wesentlich neu kennenlernen, egal wie viele Amorelie-Kalender man bestellt.

Natürlich kann man das frische Gefühl der Verliebtheit der ersten Monate nicht mehr heraufbeschwören, egal wie viele neue Abenteuer oder Reisen unternimmt. Natürlich sind unsere Möglichkeiten für Datenights als Paar eingeschränkt durch den Grad der verfügbaren Kinderbetreuung. Und nicht jede sexuelle Präferenz, nicht jeden Kink muss der Freund oder die Freundin mitmachen – bedeutet das dann aber, dass einer immer verzichten muss?

Der Mann an meiner Seite ist die Liebe meines Lebens, mein Zuhause, mein Partner in jeder Lebenslage. Unsere Ehe ist nicht plantonisch. Wir zwei haben uns gefunden. Und da liegt das scheinbare Paradox, denn meine Freundinnen sagten: „Willst du das alles aufs Spiel setzen?“. Aber gerade deshalb dachte ich: Was soll dieses Fundament erschüttern? Wie kann ein Date, ein Kuss, Sex mit einer anderen Person von dem wegnehmen, was wir schon haben? Es erschien mir absurd.
Und scheinbar sah David es genauso.

Irgendwann saßen wir also auf dem Sofa und die Idee, die bisher nur vage in meinem Kopf schwirrte, nahm urplötzlich Gestalt an. Also fragte ich, ob wir das nicht mal probieren wollen. Dieses Ding mit der offenen Beziehung. Geplant und vorbereitet hatte ich das Gespräch nicht, aber irgendwie hatte es sich immer wieder schon davor in Gespräche geschlichen. Indirekt. Vorsichtig. Implizit. Eigentlich wusste ich selbst nicht, dass ich es wollte. Bis ich es aussprach. Einen Moment lang dachte ich dann, dass es doch eine Scheißidee war.

Er nahm mich in den Arm und sagte: „Ich habe Angst davor, dass wir eine Tür aufmachen, die wir nicht mehr zu machen können.“ Aber es war kein Nein. Es war keine Ablehnung.

Da war nur wieder das, was uns ausmachte: Nähe, Vertrautheit. Rohe, raue Offenheit. Als würde man sein gesamtes Sein von Innen nach Außen kehren und dem anderen auf einem Tablett präsentieren. Hier bin ich!, schrie sie. Mit alle meinen Wünschen und Unsicherheiten, egal wie komisch sie sind. Liebst du mich auch so? Sind wir zwei immer noch ein Ding?

Hatte ich diese Angst dann auch, irgendwie? Ja klar! Aber mein Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft war größer. Und wie so oft, wenn Dinge eine Eigendynamik entwickeln, ging es dann plötzlich sehr schnell. Ich, die David noch klassisch in einem Club kennengelernt hatte, tauchte ein in die Welt von Tinder, Joyclub, Feeld & Co. und fühlte mich frei und lebendig. David lernte jemanden kennen und stellte fest, dass ONS gar nicht sein Ding sind und er darin aufging, neben seiner Rolle als Ehemann und Vater auch noch ein Freund für jemanden zu sein. Er war es, der für uns letztlich den Weg aus der offenen Beziehung in die Polyamorie ebnete.

Über eineinhalb Jahre ist das Gespräch auf dem Sofa nun her. Was als vorsichtiges Experiment aus Neugier begonnen hat, ist für uns mittlerweile Lebenskonzept, fundamentale Überzeugung und Alltag geworden.

Anders kann ich es mir kaum mehr vorstellen. David ist bereits seit Monaten mit Kathi* zusammen, seiner Freundin. Ich habe einige casual Datingpartner, mit denen ich mich zum Spazierengehen, Essen, Drinks oder (sekundär) Sex verabrede, wenn es sich ergibt. Inzwischen gibt es aber auch jemanden in meinem Leben, den ich stolz „meinen Freund“ nenne, Felix*. Die Freundin meines Mannes bringt unserem Kind manchmal Kinderbücher mit. Ich gebe für sie auch mal Kuchen mit. Ein Datingpartner und ich kennen uns schon seit fast einem Jahr, unsere Beziehung ist aber semi-platonisch. Sex hatten wir noch keinen, aber wir gehen gerne essen und knutschen und lachen viel. Ein Label? Unnötig. Felix Tupperdosen stapeln sich in meiner Küche. Und David hat ihm erst vor kurzem seinen Koffer für eine Reise geliehen.

Ist es immer so scheinbar einfach, harmonisch, ergänzend? Fuck, nein. Manchmal ist es einfach nur anstrengend, kräftezerrend, emotional.

Aber ganz ehrlich? Ich kann es mir nicht mehr anders vorstellen. Würde es mir nicht anders wünschen! Poly zu sein bedeutet nicht, permanent zusätzliche Partner*innen zu haben. Es bedeutet auch, nicht wieder in eine Beziehungsform zurückkehren zu wollen, die sehr oft nur in einem Besitznarrativ funktioniert. In der einvernehmliche Festivalküsse und Flirts mit anderen ein fundamentales Problem, eine Bedrohung, für die Beziehung sind. In der meine eigenen Unsicherheit und Verlustängste über das Verhalten anderer bestimmen

Nach wie vor sind wir zwei ein glückliches Paar, wir drei eine Familie. Nichts hat sich verändert. Und doch so einiges. Seit der offenen Beziehung habe ich das Gefühl, dass sich mein Herz vergrößert hat. Ich liebe David noch mehr. Und zeitgleich ist da noch so viel Spielraum für andere Menschen, andere Beziehungen. Zum Beispiel für meinen Freund, den ich ohne die offene Ehe niemals kennengelernt hätte.

Kein Entweder-Oder.
What has been seen, cannot be unseen.

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