Reader’s Note: Die Liebe und das Internet – wieso wir nicht verloren sind

9. September 2016 von in

Geschrieben von Johanna Warda.
Die Gründerin des feministischen Portals Scheidé Revoltée und Gegnerin des Autors Michael Nast liebt das Internet und kennt es so gut wie fast keiner. Mehr Forschungs-Arbeiten von Johanna gibt es auf Researchgate.
Johanna auf IG @johv

Ja, es gab einmal eine Zeit vor Dating-Apps. Es gab auch mal eine Zeit, in der das Konzept des Datings noch nicht existierte und es gab eine Zeit, in der es den Begriff „Sexappeal“ noch nicht gab.

In der Generation unserer Großeltern, und das ist aus heutiger Sicht wirklich unglaublich, hatte Sex keinen gesellschaftlichen Stellenwert. Romantische Beziehungen waren nur im Kontext der (oftmals arrangierten) Ehe akzeptiert und wurden aufgrund des sozialen Status eingegangen, weil es die Familie und die soziale Hierarchie von einem verlangte. Sex war, zumindest offiziell, lediglich ein Akt, der mit der ehelichen Pflicht einherging. Es gab keinen Freiraum für sexuelles Verlangen und so etwas wie eine romantische Wahl gab es nur in Ausnahmefällen.

Und heute stehen wir da, mit unseren unbegrenzten Möglichkeiten und unseren Smartphones mit fünf verschiedenen Dating-Apps – einige auf der Suche nach Spaß, andere auf der Suche nach Liebe, aber anscheinend alle unzufrieden, alle irgendwie nicht am Ende ihrer Suche. Die Verwirrung ist groß, die Veränderung geht schnell, und wir sind alle überfordert, weil keine der Regeln, die uns beigebracht wurden, mehr Bestand zu haben scheinen. Das liegt daran, dass die Art und Weise, wie wir romantische Beziehungen eingehen und nach Liebe und Zuneigung suchen, sich ständig verändert – und das ziemlich schnell. Was für unsere Eltern galt, gilt für uns nicht mehr. Was für unsere Großeltern galt, klingt für uns wie aus einem anderen Universum. Denn die Suche nach der romantischen Liebe ist ein Kulturphänomen und sie unterliegt kulturellem Wandel. Das Phänomen des Online-Datings (und ganz speziell Tinder und die neueren Dating-Apps) ist Teil dieser Veränderung.

Aber wie zur Hölle kam es überhaupt zu dieser Welt, in der so etwas wie Tinder ganz normal und logisch geworden ist? Die Soziologin Eva Illouz hat darüber viele Bücher geschrieben und hat eine ziemlich einfache Antwort auf diese Frage: Durch die romantische Wahl. Seitdem Mensch sich seinen Partner oder seine Partnerin ganz unabhängig von sozialem Stand, Hautfarbe, Herkunft oder Sonstigem aussuchen kann – ja, ab dann wurde es kompliziert. Das passierte ungefähr zeitgleich mit der Herausbildung des modernen Kapitalismus (und jetzt wird es ein bisschen theoretisch): Alte Hierarchien wurden aufgelöst und der soziale Stand verlor an Relevanz. Wichtig war nun die Ausstattung mit Kapital. Jeder wurde seines Glückes Schmied – zumindest scheinbar. Die Massenmedien bildeten sich heraus und eine Konsumkultur entstand – eine Konsumkultur, in der Ästhetik plötzlich unglaublich wichtig wurde: In der Mode, im Film, in der Kunst, in der Werbung, usw. Frei nach dem Motto „sex sells“ wurde Attraktivität zum Statusmerkmal. Das „Rendez-Vous“ (heute sagen wir „Date“) wurde zur zentralen Praktik in der Partnersuche. Schönheit wurde vom Charakter abgetrennt, Sexualität von Emotion. Und dann überrumpelte die sogenannte sexuelle Revolution die westliche Welt und eröffnete ganz neue Möglichkeiten der romantischen Begegnung. Der Begriff des „Sexappeals“ entstand. Wer auf dem Heiratsmarkt bestehen wollte, musste nun ganz neu überzeugen. Und ab diesem Moment wurde Mensch picky: Wenn man sich schon auf die Suche nach einem Partner für’s Leben macht, dann muss er oder sie auch in möglichst jedweder Hinsicht perfekt sein. Und erfahrungsgemäß gibt es ja immer jemanden, der noch ein bisschen perfekter ist, noch ein bisschen seelenverwandter – und auch das ist eine durch und durch moderne Vorstellung.

Und dann kam das Internet. Und dann wurde es richtig kompliziert. Plötzlich stand man mit tausenden und abertausenden anderer Menschen in Konkurrenz – davon scheinbar 80 Prozent gutaussehender, erfolgreicher und spannender als man selbst. Nur logisch, dass als erste Reaktion darauf erst mal Datingportale entstanden, die einen besonderen Fokus auf das Filtern des Angebots legten. Natürlich wirken match.com, Eliterpartner und Konsorten aus heutiger Sicht irgendwie Oldschool, weil wir inzwischen verstanden haben, dass einem das Ausfüllen eines 500 Fragen schweren Psychotests auch nicht den perfekten Partner herausfiltern wird. Aber in den frühen Stunden des Internets war es die logische Konsequenz aus dieser Überforderung mit dem virtuellen Partnermarkt – und auch heute verzeichnen diese Partnerbörsen noch unglaubliche Umsätze. So oder so hat das Phänomen Online-Dating die moderne Liebe und die Art und Weise, wie wir uns begegnen, revolutioniert. Online-Dating ist „der bedeutendste Trend in der modernen Partnersuche“ – sagt Eva Illouz, und sie hat Ahnung.

Aber mal ehrlich: Für uns hippe Großstadt-Mittzwanziger bieten diese (meist auch noch super teuren) Datingportale irgendwie nichts Reizvolles. Zu spießig, zu planbar, zu arrangiert, zu verklemmt – und so herrschte bis auf ein paar Ausnahmen lange Zeit Leere in der organisiertem Millenial-Onlinedatingwelt. Bis zu diesem schicksalhaften Tag im Jahre 2012, als ein paar Studenten in Kalifornien die vermutlich simpelste App aller Zeiten programmierten und Tinder das Licht der Welt erblickte. Innerhalb von einem Jahr hatte die App die großstädtische Datingwelt in der ganzen Welt fest im Griff, und es ist kein Ende in Sicht. Tinder lässt uns bedeutungslosen Sex haben und interessante Leute treffen, wir benutzen es, um in fremden Städten Kontakte zu knüpfen und das eine oder andere Tinder-Paar hat inzwischen bestimmt auch schon geheiratet. In 10 Jahren sprechen wir wahrscheinlich von der neuen Generation der „Tinder-Kinder“: „Mama, Papa, kennt ihr euch eigentlich auch vom Swipen?“.

Man kann also zurecht behaupten, dass Tinder einen nächsten Schritt in der Transformation der romantischen Begegnung darstellen könnte. Die App ist perfekt für uns Digital Natives. Wir sind an tägliche Bilderflut gewöhnt, wir bringen keine Geduld mehr für viel Aufwand auf und sind mit Videospielen groß geworden. Tinder fühlt sich an wie ein Spiel, funktioniert irgendwie wie Tumblr oder Instagram und lässt keinen Raum für Enttäuschung – man kann nur mit Menschen chatten, die man auch gut findet, und wenn einen jemand nicht zurück-liked, geht die Abweisung in der Masse unter. Tinder macht Spaß, es streichelt das Ego, und es verpflichtet uns zu nichts.

Aber was bedeutet das für uns? Sind wir eine verkorkste Generation, die nur noch nach dem Schema „Hot or Not“ funktionieren kann? Sind wir so abgestumpft, dass wir auf keine andere Weise mehr Kontakte knüpfen können, als fließbandmäßig Profilbilder hin und her zu swipen? Sind wir tatsächlich die „Generation Beziehungsunfähig“, als die wir gern dargestellt werden?

Ich glaube nicht – denn es gibt auch eine andere Seite. Tinder ist zwar eine Form von romantischem Massenkonsum, aber Tinder ist irgendwie auch brutal ehrlich, und genau das hat uns beim „klassischen“ Online-Dating à la „E-Mail für dich“ bisher gefehlt. Tinder ist auch ein Schritt weg von der Planbarkeit und der Vorstellung des „perfect match“. Wir haben keinen Bock auf Psychotests und Dates, die uns irgendein Algorithmus vorschlägt. Bei Tinder entscheiden wir innerhalb von Sekunden, ob wir jemanden gut finden oder nicht – so, als würden wir ihm oder ihr auf der Straße begegnen. Tinder ist intuitiv und auf merkwürdige Art authentisch. Nicht zuletzt, weil es untrennbar mit dem Garant für Authentizität im 21. Jahrhundert verknüpft ist: Unserem Facebook-Profil, auf dem wir uns für die Allgemeinheit präsentieren – für unsere Freunde, unseren Chef und unsere Eltern. Außerdem bietet Tinder im Vergleich zu anderen Online-Dating-Plattformen sehr wenig Fläche für Selbstdarstellung: ein paar Bilder, ein bisschen Text, das war’s. Wir sind mit Selbstdesign im Internet groß geworden und haben längst verstanden, dass das, was man im Internet von sich Preis gibt, nichts mit der wirklichen Person zu tun haben muss. Also reduziert Tinder das auf ein Minimum und versucht es gar nicht erst. Der Erfolg von Tinder zeigt aber auch, und das finden Kritiker am alarmierendsten, dass die Kluft zwischen Sexualität und Emotionen immer größer wird. Wir suchen beides getrennt voneinander und Sex wird zum Statussymbol. Ob das empowernd oder alarmierend ist – da scheiden sich die Geister.

Wie geht es also weiter mit den romantischen Beziehungen im 21. Jahrhundert? Auf jeden Fall bestätigt der Erfolg von Tinder und ähnlichen Apps, dass der romantische Markt, genauso wie alle anderen Märkte, auch weiterhin nach ökonomischen Regeln funktionieren wird. Auch in der Liebe gibt es Angebot und Nachfrage, wir haben einen „Marktwert“ und Sexualität ist die zentrale Kapitalform. Liebe und Beziehungen sind ein Teil unseres „Ich-Projekts“. Unsere Sexualität ist und bleibt ein zentraler Teil unserer Identität. Und Liebe und Sex werden auch in Zukunft nichts mehr miteinander zu tun haben müssen – auch das zeigt der Erfolg von Tinder und Co. ziemlich eindrücklich. Dass sich die Partnersuche der Millenials in einem derartigen Chaos befindet, ist ein Ausdruck des Anpassungsprozesses der Praxis der Partnerwahl an das digitale Zeitalter – und unsere Überforderung, mit dieser rasanten Entwicklung Schritt zu halten. Denn wie so oft stecken wir als Generation mitten drin in einer fundamentalen Veränderung – in diesem Fall einer Transformation der Bedingungen, unter denen romantische Begegnungen stattfinden.

So oder so ist es jetzt schon schwer, sich der Entwicklung zu entziehen. Auch wenn diese Transformation nicht an Geschwindigkeit nachlassen wird – vielleicht werden wir uns irgendwann an sie gewöhnen, und wenn wir Glück haben, lässt dann auch unsere chronische Überforderung nach und der Mythos der „Generation Beziehungsunfähig“ wird sich in Luft auflösen.

 

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3 Antworten zu “Reader’s Note: Die Liebe und das Internet – wieso wir nicht verloren sind”

  1. Toll umleuchtet und interessant geschrieben. Als ob Tinder und Dating Apps quasi die logische Konsequenz unserer gesellschaftlichen Entwicklung sind :D
    Aber Jemanden das erste Mal direkt vor sich zu sehen, zu ‚riechen‘ und zurück angeschaut zu werden und das alles gleichzeitig kann leider nicht durch eine App ersetzt werden. Trotzdem denke ich, dass das Ganze egal, ob durch Dating App, Dating Portal oder im ‚real life‘ immer spannend ist, denn letztendlich geht es dann ja-und davon bin ich fest überzeugt-immer darum, Liebe zu finden. Wie diese dann aussieht und in welcher Form, Auslebung und Dauer ist aber dank unserer heutigen Gesellschaft jedem frei überlassen.

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