The Talk: Von Sandburgen und zerplatzten Träumen
Es ist warm an jenem Tag. Ich sitze im Sand, stundenlang. Hier noch ein Stein, da noch ein Turm. Mit ganz viel Liebe und Hingabe feile ich an meiner Sandburg. Stundenlang. Sie ist wunderschön, fast perfekt. Als ich mich für einen kurzen Moment wegdrehe, passiert es. Der Nachbarsjunge, der neben mir die ganze Zeit Fußball gespielt hat, schießt den Ball direkt auf meine Sandburg – unabsichtlich. Eine Sekunde später ist die Sandburg zerstört. Mein sechsjähriges Ich ist entsetzt. Ich balle meine Fäuste, gleichzeitig schießen mir die Tränen in die Augen. Wut, Trauer, Verzweiflung. Alles ist kaputt.
Zerplatzt. Der Traum von der schönsten Sandburg an jenem Tag.
Heute ist die Sandburg nur noch ein Synonym für zerplatzte Träume und Vorstellungen. Die Gefühle hingegen bleiben gleich – ob als Sechsjährige, die an ihrem „Meisterwerk“ feilte oder als Mittzwanzigerin, deren Leben plötzlich Kopf steht. Wut, Verzweiflung, Trauer – und vielleicht auch mal Erleichterung.
Denn je älter wir werden, umso öfter passiert es nämlich: Unsere mit Liebe aufgebaute Sandburg wird zerstört. Sei es, weil wir einen geliebten Menschen verlieren, die große Liebe plötzlich stirbt, eine Freundschaft sich als Feindschaft entpuppt oder der Traumjob uns an den Rande des Wahnsinns treibt.
Wenn Träume und Vorstellungen platzen, wenn das Leben plötzlich einen anderen Weg einschlägt, bannen sich Wut, Verzweiflung und Trauer ihren Weg. „Mein Plan war eigentlich anders“, „Ich habe doch so viel gegegeben“, heißt es dann. Gereicht hat es trotzdem nicht.
Manchmal sind es äußere Umstände, die den Plan zerbröseln lassen. Der Mitbewerber war besser, der Partner hat sich entliebt oder eine Krankheit nimmt uns den allerliebsten Menschen. Manchmal – und auch das ist schmerzhaft – sind wir es selbst, die an der falschen Stelle gegen die Mauer treten und alles einstürzen lassen. Weil wir eine Abgabefrist verschlafen, weil wir zu sehr mit uns beschäftigt waren, weil die Vorstellung so ganz anders war oder weil wir zwar wollen, aber nicht können.
Sandburgen stürzen ein. Wenn der Regen einsetzt, wenn ein anderes Kind sich anschließt oder eben ein Fußball die Türme erwischt. Egal, was unser Leben zum Einsturz bringen mag, nach Wut, Trauer und Verzweiflung kommen auch wieder andere Gefühle: Erleichterung, Spannung, Neugier, Vorfreude und das Gefühl, dass es doch so wie es ist irgendwie okay ist.
An jenem Tag, ein paar Tränen später, eine Umarmung meiner Mama und ein Eis zum Trost, war alles wieder gut.
So schnell geht es nicht immer. Doch eine kaputte Sandburg ist auch eine Chance. Neues Spiel, neues Glück – wer kein Gebilde mehr vor sich hat, hat die Zeit, sich neu zu sortieren, herauszufinden, ob dies wirklich die richtige Burg war, oder ob es nicht vielleicht doch noch ganz anders geht.
Am nächsten Tag habe ich eine neue gebaut.
5 Antworten zu “The Talk: Von Sandburgen und zerplatzten Träumen”
Wunderbarer Beitrag – danke!
Ich finde es toll, dass ihr auch persönliche Beiträge schreibt. Sehr toll sogar. Aber gleichzeitig schade, dass die oft so allgemein sind wie da oben. Das könnte ich aus jedem billigen Ratgeber auch haben. Wenn man versucht, alles Private zu vermeiden, und trotzdem sowas zu schreiben, wird es ganz arg langweilig.
Liebe Elis,
Danke für deinen Kommentar.
Tatsächlich stimmt deine Kritik. Wir wollen gerne persönliche Beiträge schreiben, gleichzeitig aber natürlich auch allgemein bleiben. In diesem Fall hätte ich sicherlich eine persönlichere Ebene durch eigene Erlebnisse finden können. Ich nehm mir das ganze zu Herzen und werde beim nächsten Beitrag drauf achten. Danke dir!
Ein wunderbarer Text <3 Ich persönlich finde es im Übrigen sehr schön, dass du auf einem allgemeineren Niveau geblieben ist – so kann ich als Leser noch viel mehr mitfühlen und empfinden. Ein bisschen zu erahnen, was dich beschäftigt und das Ganze trotzdem auf das eigene Leben übertragen zu können, macht das Leseerlebnis für mich angenehm und trotzdem intensiv.
Liebe Anna,
danke dir!
Das ist wirklich spannend – ich persönlich bleibe auch lieber allgemein, da ich auch oft über Themen schreibe, die mich mal tangiert haben, aber gerade beispielsweise nicht aktuell sind. Aber es Themen sind, die auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis immer wieder auftauchen. Danke dir!