Danke Gen Z, Ihr gebt mir Hoffnung – oder warum ich TikTok liebe

7. Juni 2021 von in

 „Wisst Ihr was mich anpisst? Wenn ich kleinere Brüste hätte, wäre das hier ein Oberteil, ein Outfit. Aber würde ich nun so rausgehen, wäre ich nur eine fucking whore“, sagt Julia auf ihrem TikTok Account @juliashorofsky. Sie steht in ihrem Badezimmer und filmt sich selbst in einem rot-pinken Spitzen-Bralette-Top. Die Kommentare sind durchmischt. Viele schreiben, sie sähe toll darin aus und solle sich keine Gedanken darüber machen, was andere sagen. Einige unterstellen ihr, nur ihren Körper zeigen zu wollen – werden aber glücklicherweise von anderen Kommentierenden über das Problem ihrer Aussage hingewiesen. Wieder andere wollen einfach nur wissen, woher sie das Bralette hat.

@juliashorofsky

@hbicmm YES LOUDER FOR THE PEOPLE IN THE BACK #patriarchy #fypシ #foryou #men #beauty #women #xyzbca #bralette #duett

♬ original sound – h

Auf meinem Handy sehe ich das Video und möchte ihr, wie die Nutzerin @brailynsru: „PREACH“ in Großbuchstaben schreibt, zuschreien. Das Problem mit Kleidung und großen Brüsten kenne ich schon lange. An eine der ersten Situationen, in der es mir bewusst wurde, erinnere ich mich gut. Ich muss in der siebten oder achten Klasse gewesen sein. In der Schule trug ich stolz ein neues Outfit, das ich mir von meinem ersparten Taschengeld gekauft hatte. Es war ein blauer High Waist Rock, der oben einen taillierten Gummizug hatte und unten weiße Spitze, dazu ein graues Tank-Top mit zwei rot-weißen Schleifen auf der Brust. Warum ich das so genau beschreibe, obwohl wir alle wissen, dass Kleidung NIE eine Rolle spielen sollte? Weil ich mit diesem typischen Outfit für eine Zwölf- oder 13-Jährige einen sexistischen Spruch auf dem Pausenhof abbekam. Ich hatte bereits ein C-Körbchen und der sichtbare Unterschied zwischen Taillen- und Brustumfang machte mich auf einmal „sexy“.

Teenie-Traum TikTok

Verunsichert trug mein Teenie-Ich daraufhin eher weite und lockere Oberteile. Brust oder sogar Ausschnitt zeigte ich, falls überhaupt, nur auf Partys oder dem Oktoberfest. Das hatte natürlich viel mit Angst vor Belästigung zu tun, aber auch mit meinem Selbstbild. Plötzlich ging es nicht nur darum was mir gefällt, sondern darum meine Brustweite zu kaschieren. Ich mache das heute noch. Genau deswegen wünschte ich, mein Teenie-Ich hätte TikTok-Videos gesehen. Seit ein paar Monaten habe ich nämlich einen Account. Und kann nicht anders, als zu sagen: Ich liebe TikTok. Mein Internetkonsum war nie so divers wie jetzt. Ständig lerne ich Neues, darf in Lebensrealitäten schauen, zu denen ich sonst keinen Zugang hätte, und merke oft: Ich bin nicht allein.

Zum Beispiel, wenn Alyssa, @alcequine_, offen über ihr Leben mit einem Bein und ohne Mittelfinger spricht. Oder wenn @lgbtq_asylant erzählt, wie es sich als schwarzer, schwuler Asylant lebt. Und Cassidy, @cashitty, klärt nicht nur über ihr Muttermal im Gesicht auf, sondern spricht leidenschaftlich gerne über Vögel. Sie hat sogar ein ganzes Video ihren Lieblingsvögeln gewidmet. Klingt total banal, aber sobald sie über den Schuhschnabel oder die Mandarinente spricht, freue ich mich jedes Mal darüber, dass es auch andere Menschen gibt, die sich in Themen verlieren können. Denn ich war als Teenie diejenige, die gemeinsam mit ihrer Mutter enthusiastisch ein Pilz-Buch für den Heimat- und Sachunterricht bastelte und am nächsten Tag ausgedruckte Zeitungsartikel mit in die Schule nahm, um eine Aussage zu beweisen, die niemand glaubte.

Gewiss hätte ich das neue Wissen, das ich bei Chris, @meh.ur.mommy, gelernt habe mit in die Schule genommen. Davor wusste ich nicht, das dey/deren/dessen eine deutsche Alternative zu den englischen Pronomen they/them sein können. Einen Einblick in den Islam und Hijab Tutorials verfolge ich nun bei @sfkhader. Ihr Vergleich von Hotpants und Hijabs hat mich sehr zum Schmunzeln gebracht. Das Hijabs eine Form der Unterdrückung sind, kontert sie ganz einfach damit, das Hotpants ein Produkt des Patriarchats seien.

@lgbtq_asylant

#lgbtdeutschland #lgbt🏳‍🌈 #loveislove #lgbttiktok

♬ Originalton – Remy 🌈🌈

Die neue Art der Aufklärung

TikTok ist ein Ort, an dem Geschichten Raum finden, die sonst zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Das liegt vor allem an der Generation Z, die laut Ad Age fast 70% der Nutzer ausmachen. Sie sprechen offen über Tabus unserer Gesellschaft und enttabuisieren sie damit automatisch. Wenn jeder von seinen psychischen Problemen erzählen würde, könnten wir wahrscheinlich schnell feststellen, dass die meisten in ihrem Leben irgendwann einmal damit kämpfen. Das Gleiche gilt für Themen wie Sexualität, Religion, Körperempfinden, toxische Männlichkeit und Co.

Das magersüchtige Mädchen bekommt ein Gesicht, der manische Junge eine Stimme und die queere Person eine Geschichte. Wir lernen sie durch diese Einblicke kennen und erhalten neue Blickwinkel. Sehen wir zum Beispiel einen dicken Menschen, der offen und positiv mit seinem Körper umgeht, ändert das auch unsere Sicht auf ihn. Hören wir Geschichten aus dem Koran und bekommen sie interpretiert, verstehen wir was Halal ist. Eine Akzeptanz und Sensibilisierung entstehen, die im besten Fall dazu führen, dass Jugendliche für ihr Aussehen und ihre Herkunft nicht mehr gehänselt werden. Durch Wissen ist das vermeintlich andere auf einmal menschlich.

Ein ehrliches Video ist die neue Art der Aufklärung. Der Teil mit demselben Problem hat plötzlich eine Gemeinschaft und fühlt sich weniger allein. Es ist eine virtuelle Selbsthilfegruppe. Der andere Teil erfährt Informationen, das er selbst nicht nachvollziehen könnte – so sollte am Ende Empathie entstehen. Die TikTok-Community scheint es verstanden zu haben. Seit Greta Thunberg und der Fridays-for-Future-Bewegung bin ich ein Fan der nächsten Generation. Diese jungen Menschen geben mir die Hoffnung, dass soziale Ausgrenzung und die Probleme unserer Zeit irgendwann der Vergangenheit angehören werden. Liebe Gen Z, danke dafür!

 

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