Eines der schönen Dinge am Internet ist es, dass man nie weiß, mit welchen Hype es als nächstes um die Ecke kommt – besonders, wenn es um Memes geht. Dass ausgerechnet Dolly Parton, die 74-jährige Country-Göttin, einen der ersten großen Meme-Hypes des neuen Jahrzehnts lostreten wird, war mal wieder einer dieser Plot-Twists, für die man das Internet lieben muss – es setzt sich einfach durch, was funktioniert. Und das Meme-Format, das Dolly Parton in die digitale Welt gesetzt hat – die Dolly Parton Challenge –funktioniert grandios. Für jede einzelne von uns. Und dafür gibt es einen guten Grund.
Hundert Seelen in der Brust
Wir sind komplexe Wesen. Es gibt mehr als eine Version von uns; wir sind kontextabhängig. Das galt schon lange, bevor es Plattformen wie Facebook, Instagram oder Tinder gab: Die Arbeitskollegin weiß nicht, wie schamlos wir mit Freundinnen in der Kneipe Schnäpse exen; mit den Eltern reden wir anders als mit unserer Chefin und die Person, mit der wir dreimal auf einem Date waren, hat keine Ahnung, wie wir uns verhalten, wenn wir mit unserer Oma Kaffee trinken. Je moderner unsere Welt wird, desto mehr multiplizieren sich auch die Versionen von uns. Denn als noch alles in einem sehr begrenzten Rahmen stattfand – und man zum Beispiel im selben Dorf aufgewachsen ist, gelebt und gearbeitet hat – war es noch nicht so alltäglich, sich ständig an derart unterschiedliche Kontexte anpassen zu müssen. Heute sind wir sehr viel mobiler, vernetzter und flexibler – und damit auch freier. Aber eben auch komplexer, denn es leben nicht nur zwei, sondern gefühlte hundert Seelen in unserer Brust.
Und die werden im Internet sehr viel offensichtlicher, denn hier müssen wir uns aktiv selbst kuratieren und präsentieren. Hier haben wir einen sehr großen Einfluss darauf, wie wir wahrgenommen werden. LinkedIn? Professionell und selbstsicher! Instagram? Authentisch und glücklich! Tinder? Geheimnisvoll und sexy! Wenn wir uns Profile erstellen, dann denken wir zwangsweise darüber nach: Wer will ich in diesem Kontext sein? Und natürlich beschleicht einen dabei ständig das Gefühl, dass irgendwie keine dieser Versionen wirklich authentisch ist – wie auch?! Eine Persönlichkeit lässt sich nicht in Binärcode übersetzen – und damit auch in keinen kontextabhängigen Social-Media-Feed. Wahre Authentizität gibt es in Anbetracht dieser ständigen Anpassung, die wir betreiben, ohnehin nicht wirklich – zwar sind all diese Versionen von uns irgendwie echt, aber sie alle können immer nur die halbe Wahrheit bleiben. Wie Whitney Houston mal so schön gesungen hat: I’m every woman – it’s all in me. Aber es ist eben nicht möglich, dass alles gleichzeitig zum Vorschein kommt.
Paradox authentisch
Diese simple und geniale Wahrheit transportiert die #dollypartonchallenge – und normalisiert damit eine Tatsache, die zwar einerseits offensichtlich ist, aber andererseits ständig unter den Teppich gekehrt wird. Das liegt daran, dass die sogenannte Authentizität zu einem sehr hohen gesellschaftlichen Gut geworden ist – besonders, wenn es um unsere Internetauftritte geht. Wir alle streben danach und versuchen, Authentizität zu performen – egal, auf welcher Plattform. Diesem Denken liegt die Vorstellung eines wahren Kerns jeder Person zugrunde, den man möglichst 24/7 nach außen befördern soll, ohne sich zu verstellen: Eine Aufgabe, die unmöglich ist, wenn man bedenkt, in wie vielen unterschiedlichen Kontexten wir uns täglich bewegen und dass wir die meiste Zeit keine andere Wahl haben, als unser Verhalten anzupassen. Dass diese Anpassung kein Zeichen dafür ist, dass wir unauthentisch oder unehrlich zu uns selbst sind, ist auch eine Botschaft, die das neue Meme so relatable macht: Es gibt nicht diese eine, authentische Version von uns, sondern viele. Keine davon ist wahrer oder echter als die andere.
Es hat deswegen etwas heilsames, mit der Verbreitung der Challenge zu sehen, dass dieser Facettenreichtum nicht nur komplett normal ist, sondern sogar notwendig – für jede von uns. Und dass es okay ist, dass unser LinkedIn-Profil eine komplett andere Geschichte erzählt als unser Instagram-Account. Es muss uns nicht in Zerrissenheit stürzen, wenn wir das Gefühl haben, unseren „authentischen Kern“ nicht zu fassen zu kriegen. We live in a society – und die verlangt von uns, dass wir mehr als eine Rolle kennen. Unsere verschiedenen Profile sind die Beweise dafür. Vielleicht lernen wir ja jetzt, da das Internet bald 30 Jahre alt wird, diese Tatsache zu akzeptieren: Authentizität ist relativ – und unsere persönliche Wahrheit ist es auch, sowohl analog als auch digital.
2 Antworten zu “I’m every woman: Die Dolly Parton Challenge”
Ich halte die Grundannahme „Wir alle streben danach und versuchen, Authentizität zu performen – egal, auf welcher Plattform“ für diskussionswürdig. Zumindest ich strebe nicht nach Authentizität und schon gar nicht im Internet. Im Gegenteil, der Reiz des Internets liegt doch gerade darin, dass man dort alles mögliche inszenieren kann. Oder stehe ich jetzt völlig auf dem Schlauch?
Ja, also jein! Ich glaube, wie gesagt, dass es ohnehin unmöglich ist, sich wirklich authentisch darzustellen – besonders im Internet! Und ich glaube auch, dass sich die meisten Menschen, die sich als authentisch inszenieren, vor allem an gängigen Codes orientieren. Beispiel: Ein Model isst in einer Instastory Pizza. Gilt weithin als authentisch, ist aber eben auch nicht besonders originell. Und obwohl Authentizität oft so eine leere Phrase ist, hat sie gerade auf Plattformen wie Instagram einen sehr hohen Stellenwert – das Wort gehört zur Marketing-Speech von jedem Influencer, erfolgreiche Accounts werden an ihrer Authentizität gemessen und auch Celebrities gelten als sympathischer, je mehr sie relatable sind. Dass das keine echte Authentizität, im Sinne von Aufrichtigkeit ist, ist irgendwie noch nicht so richtig angekommen.