Interview: „RuPaul’s Drag Race“-Star Aquaria über Pride, mächtige Frauen und warum Make-up politisch ist

20. Juli 2020 von in ,

Wir sprachen mit der Gewinnerin der 10. Staffel und Lieblings-Drag-Queen der Modewelt,
die speziell für VOGUE ein Tutorial zum Thema Pride kreiert hat: Aquaria.
Dieser Text von Tish Weinstock ist zuerst auf Vogue.de erschienen.

Die 24-jährige Drag-Queen Aquaria, außerhalb der Drag-Welt auch bekannt als Giovanni Palandrani, träumte schon immer von einem aufregenderen Leben. 2018 ging ihr Wunsch in Erfüllung, als sie als Siegerin der 10. Staffel von „RuPaul’s Drag Race“ ins Rampenlicht katapultiert wurde. Aufgewachsen in Pennsylvania, USA, zog Aquaria – inspiriert von der Liebe ihrer Mutter zum Theater und den Künsten und angetrieben von dem „Wunsch, kompromisslos ich selbst zu sein“ – 2014 nach New York, wo sie uns seither mit ihren überwältigenden Beauty- und High-Fashion-Looks verzaubert.

„Beauty“ hat viele verschiedene Bedeutungen für viele
verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlicher DNA
und mentalen Perspektiven

Inspiriert von mächtigen Frauen in der Popkultur und den extravaganten Anime-Figuren, die sie bewunderte, als sie aufwuchs, beschreibt Aquaria ihre Ästhetik als teils „bitchy“, teils „butchy“. Seit sie bei IMG unterzeichnet hat, wurde sie von Michael Bailey-Gates für die VOGUE Italia fotografiert, zierte das Cover des „New York Magazine“ und erschien als Gesicht in Kampagnen für Mac und Moschino x H&M. Für VOGUE hat sie außerdem kürzlich ein Beauty-Tutorial zum Thema Pride aufgenommen. Wir haben mit Aquaria über die Überwindung von Stereotypen gesprochen und darüber, warum Make-up politisch sein sollte.

Wann wurden Sie sich zum ersten Mal Ihres Erscheinungsbildes bewusst?

Als Kind habe ich mich immer als verschiedene Charaktere verkleidet. Meine Eltern schienen nie davor zurückzuschrecken, mich mit meiner Fantasie experimentieren zu lassen. Ich habe es geliebt, Looks nachzukreieren, die ich in meinen Lieblingsfilmen gesehen hatte, viele von ihnen mit weiblichem Erscheinungsbild, und wenn ich zurückblicke, habe ich so viel Respekt vor meinen Eltern, dass sie mich nicht davon abgehalten haben, der kleine „Sissy Boy“ zu sein, der ich war. Dass ich mir meines Aussehens – oder zumindest der unendlichen tollen Möglichkeiten, mich selbst zu präsentieren – in einem so jungen Alter bewusst war, ist etwas, was ich als großes Privileg und Glück empfinde, dazu in der Lage gewesen zu sein.

Was war Ihre früheste Erfahrung mit Make-up?

Ich habe oft meine Augenbrauen für die Schule ausgemalt und meine Teenager-Akne abgedeckt. Zusammen mit meiner Liebe zu Halloween und zum Verkleiden habe ich dadurch eine sehr starke Verbindung zu Make-up aufgebaut. Ich habe experimentiert, indem ich Produkte an verschiedenen Bereichen in meinem Gesicht aufgetragen habe, und erkundete die unendlichen Möglichkeiten von Beauty und Design. Ich habe es geliebt, Eltern zu haben, die sich nicht davor fürchteten, mit mir über meine Interessen zu sprechen, denn durch diese offenen Dialoge, die wir über mein Aussehen, meine Interessen und meinen Lebensstil führten, fühlte ich mich wohler und hatte mehr Vertrauen darin, meine Talente auf natürliche Weise zu erforschen und zu entwickeln.

Gab es jemals Zeiten, als Sie aufwuchsen, in denen Sie sich mit Ihrem Aussehen unwohl fühlten?

Wie fast alle anderen war ich während meiner unbeholfenen Wachstumsphase, als alles überproportional schien und meine Haut mit Pfirsichflaum und Unmengen an Unreinheiten übersät war, definitiv nicht der größte Fan von mir. Schönheit zwischen diesen nachvollziehbaren „Makeln“ zu finden, war definitiv schwierig. Zu dieser Zeit versuchte ich mich, wenn möglich, von den Makeln abzulenken und mich auf die Dinge an mir selbst zu konzentrieren, die ich kontrollieren konnte, wie meine Haare und Augenbrauen.

Ich mag, dass der Drag, wie ich ihn heute ausübe, sehr stark die Ladys widerspiegelt, die ich in meinen früheren Jahren als mächtig empfunden habe

 

Wie hat sich Ihrer Meinung nach Ihr Verhältnis zur Beauty im Laufe der Zeit entwickelt?

Mir ist klar geworden, wie verlogen das ganze Konzept ist, vor allem wenn es als Pauschalbegriff für alle Menschen verwendet wird. „Beauty“ hat viele verschiedene Bedeutungen für viele verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlicher DNA und mentalen Perspektiven. Sicherlich gibt es Möglichkeiten, die eigenen Züge hervorzuheben oder zu kaschieren, um auf eine bestimmte Art und Weise zu erscheinen (und ich bin auch überhaupt nicht gegen diese Konzepte), aber Beauty, die auf Brüchen, Gleichungen und Traditionen beruht, erscheint so unglaublich langweilig und nutzlos in einer Gesellschaft, die sie nie in erster Linie reflektiert hat. Halte ich von Natur aus viele „traditionelle“ westliche Schönheitsstandards visuell aufrecht? Sicher – man wäre ignorant, dies nicht zu bemerken. Versuche ich auch, alternative Beauty aktiv in meine Looks und Routinen einzubeziehen und die unendlich vielen verschiedenen Konzepte von Schönheit aus der ganzen Welt zu fördern und hervorzuheben? Abso-fucking-lutely.

Viele von uns sind damit aufgewachsen, „schöne“ Gestalten zu sehen, die weiß, schlank, körperlich gesund, cisgender [und so weiter] sind, und obwohl ich viele Elemente meiner eigenen Existenz nicht ändern kann, um sichtbarer zu sein, weiß ich um die Kraft, die ich besitzen kann, um mein Rampenlicht mit anderen Schönheiten zu teilen. Wir können bereits sehen, wie sich die Welt der Mode und Beauty langsam verändert, um dieses Wachstum widerzuspiegeln, und ich hoffe, dass größere Namen und Outlets weiterhin nicht nur nicht so geschlechtskonforme Schönheiten wie mich fördern, sondern auch weiterhin bemerkenswerte Anstrengungen unternehmen, um Vielfalt weiter zu fördern, und zwar über das hinaus, was wir seit Jahrzehnten gesehen haben.

Wie würden Sie Aquarias Ästhetik beschreiben?

So viele Drag-Queens finden ihre Inspiration in „mächtigen“ Frauen, aber ich möchte die Quelle dieser Macht auf jeden Fall spezifizieren, wenn ich mir diese Qualitäten und Inspirationen zu eigen mache. Diese Ladys, die [sich] nicht von den Vorstellungen der Gesellschaft darüber, wie sich Frauen benehmen, kleiden oder ihre Stimme nutzen sollten, [definieren] lassen, haben etwas so Schönes an sich. Ich will diejenigen, die ihre Macht mit anderen Mitteln zum Ausdruck bringen, sicher nicht schmälern, aber meine persönliche Veranlagung für diese Art von Charakteren beeinflusst oft meine visuellen Entscheidungen. Als Referenz: Musikerinnen wie Pink, Fergie und Lady Gaga waren frühe Inspirationen für mich als die „Mädchen, die keine Angst hatten, sich mit Typen anzufreunden/mit ihnen zu konkurrieren“. Etwas an der Dynamik ihres geschärften Bewusstseins für ihre Sexualität und ihr Aussehen war schon immer ein Motiv, sowohl visuell als auch spirituell, das sich wie ein roter Faden durch meine Arbeit zieht.

Pride bedeutet für mich Unbesiegbarkeit

Auch Anime-Figuren wie Jessie in „Pokémon“ und Mai Valentine in „Yu-Gi-Oh!“ fallen in diesen Archetyp, und ich mag, dass der Drag, wie ich ihn heute ausübe, sehr stark die Ladys widerspiegelt, die ich in meinen früheren Jahren als mächtig empfunden habe. Der oft kritisierte Einsatz von extravaganten, queeren oder an queer grenzenden Bösewichten in den Medien ist ebenfalls eine massive visuelle Inspiration. Apropos „Pokémon“, James ist ein großartiges Beispiel für jemanden, der nicht explizit Teil der LGBTQ+-Gemeinschaft ist und dennoch viele der Stereotypen und Eigenschaften widerspiegelt, die ich persönlich liebe und zelebriere. In ähnlicher Weise teilt Maximillion Pegasus aus „Yu-Gi-Oh!“ dieses Extravagante und „Campe“, mit dem ich mich als Kind so verzweifelt identifizieren wollte.

Was gibt Make-up Ihnen? Geht es um Eskapismus, oder geht es darum, Ihr wahres Selbst auszudrücken?

Für mich ist Make-up alles und gleichzeitig nichts.

Für jemanden, dessen Talente und Kunst auf Beauty, Make-up und Mode basieren, unterscheiden sich meine persönlichen Überzeugungen und Meinungen zu diesen Themen tatsächlich erheblich. Ich finde es toll, dass ich versucht habe, viele vorgefasste Meinungen zu diesen Themen auszuräumen, und es bereitet mir große Freude, vor einem Spiegel stehen zu können und zu wissen, dass ich mit meinem [Make-up] so real oder fantasievoll sein kann, wie ich will. Ich erkenne an, dass ich trotz der zweidimensionalen Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit (und manchmal auch durch mich selbst) von den visuellen und spirituellen Konzepten, aus denen Aquarius (und Giovanni) bestehen, eine unendlich facettenreiche Schöpferin bin, die null Limits und keine klaren Regeln oder Grenzen kennt.

Kann Make-up politisch sein?

Absolut. Politik existiert in jedem Aspekt unseres Lebens durch Beauty, Kunst, Sport, Unterhaltung, Essen, Mode, Musik und mehr. Dies an irgendeinem Punkt im Leben nicht anzuerkennen, ist ein Bärendienst an der Arbeit, die unsere Vorfahren geleistet haben, um zu versuchen, die Welt für künftige Generationen zu einem besseren Ort zu machen. Politische Botschaften in unsere Arbeit zu implementieren, ist unser einziger Zweck auf der Erde, denn das stellt sicher, dass die Jugend, die nach uns kommt, die Chance hat, in einer Welt ohne jene systemische Stressfaktoren aufzuwachsen, mit denen jede Generation weiterhin belastet ist.

Sie haben für VOGUE exklusiv ein Tutorial mit Pride-Thema aufgenommen. Was bedeutet Pride für Sie?

Pride bedeutet für mich Unbesiegbarkeit. Niemand hat die Macht, dir zu diktieren, wie sehr du deine Existenz feiern solltest. Für mich ist Pride eine direkte Erklärung, dass man zu seiner Identität steht, indem man die Schönheit in sich selbst zurückerobert, die unmittelbar gegen die gesellschaftlichen Grenzen verstößt. So oft offenbaren sich diese (gesprochenen und unausgesprochenen) Gesetze als Gesetze, die geschaffen wurden, um die Unterrepräsentierten zu unterminieren und unser gesellschaftliches Wachstum zu unterdrücken. Pride bedeutet nicht nur, dass wir stolz sind, sondern dass wir durch unsere angeborene Freiheit durch menschliches Überleben Macht von innen heraus fordern. Pride existiert angesichts eines Systems, das deine Stimme herabsetzen und mindern will.

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