Kolumne: Mut zur Lücke

16. Juli 2018 von in ,

Dieser Artikel von Sophia Giesecke erschien zuerst auf Refinery29
Foto: Kate Anglestein

Abbruch. Das klingt so nach Scheitern, so absolut. Abbruch. Das Wort hallt richtig im Kopf nach, so mächtig ist es. In einer Leistungsgesellschaft wird wohl kaum etwas so stigmatisiert wie ein Abbruch. Die Leistung wurde nicht erbracht, setzen, sechs!
Eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studie hat herausgefunden, dass jede*r dritte Studierende in Deutschland das Studium abbricht. Ein Abbruch, speziell ein Studienabbruch hat jedoch oftmals ganz und gar nichts mit Scheitern zu tun, sondern viel mehr mit Mut. Mut dazu, einen falschen Weg hinter sich zu lassen und endlich neue Ziele zu verfolgen. Mut dazu, auf die Erwartungen der anderen zu pfeifen und das zu machen, worauf man Bock hat.

Und wer weiß mit 18-20 schon, was er*sie mal werden will?

Wer ist denn in so jungen Jahren schon so gefestigt in seinen Überzeugungen und Zielen, um so eine wichtige Entscheidung zu treffen? Und wer zum Teufel sagt eigentlich, dass wir alle einen perfekten Lebenslauf vorweisen müssen?

Ich habe sogar zwei Studiengänge abgebrochen. Das erste Mal fiel es mir leicht, das zweite Mal nicht so, denn in meinem ersten Studium war ich einfach nicht gut, in meinem zweiten Studium allerdings schon. Das erste Fach lag mir einfach nicht, ein Abbruch schien mir nach der dritten 4 also sinnvoll. Außerdem wechselte ich ja eigentlich nur das Studienfach, auch wenn ich gleichzeitig auch die Uni wechselte, aber wir wollen mal nicht päpstlicher sein als der Papst.
Es war also absolut nicht gruselig, da es sich ja nur um eine kleine Korrektur im Lebenslauf handelte, nichts Dramatisches. Beim zweiten Mal ließ ich mir viel Zeit für den Studienabbruch. Es war klar, dass ich das Studium nicht mehr beenden würde. Zu lange hatte ich ohne Sinn und Verstand Seminare belegt, Hausarbeiten nicht geschrieben und Zeit vertrödelt. Die letzten zwei Jahre war ich nur noch eingeschrieben, ohne überhaupt noch zur Uni zu gehen. Endgültig den Stecker zu ziehen, hätte aber bedeutet, mich mit der Tatsache auseinandersetzen zu müssen, es nicht geschafft zu haben. Nicht, weil das Studium zu hart war, sondern weil Studieren einfach nicht das Richtige für mich war.

Durchziehen um jeden Preis

Für viele ist ein Studium das absolute Nonplusultra. Wer halbwegs intelligent ist, wer aus gutem Hause kommt oder wer gute Noten hat, geht in der Regel an die Uni. Gerne wird dann ein Studienfach belegt, das dem Beruf der Eltern nahe ist. Oder genau das Gegenteil ist der Fall, ein akademischer Akt der Rebellion sozusagen. Aber was ist, wenn das Studium einem überhaupt nicht liegt. Man einfach kein Talent oder Interesse für das Thema hat oder mit 24 plötzlich bemerkt, dass man doch lieber Ärztin oder Bauer werden will?

Einfach machen!

Klingt nach abgelatschter Inspo-Quote, aber: Du bist nie so gut, wie wenn du etwas mit Leidenschaft machst. Wir verbringen einen großen Teil unseres Alltags mit der Arbeit, manche mehr, andere weniger, und jede*r von uns hat es verdammt nochmal verdient, doch zumindest nicht unglücklich in seinem*ihrem Beruf und Studium zu sein. Ob man sich geirrt hat, man etwas nicht schafft oder es sich spontan anders überlegt, man kann seinen Weg korrigieren und das ist auch nicht schlimm. Wir leben heutzutage gefühlte 120 Jahre, wir haben also genügend Zeit uns noch einmal völlig neu zu orientieren. Auch im letzten Semester. Auch kurz vor dem zweiten Staatsexamen. Diese „Hauptsache man macht etwas zu Ende“-Mentalität ist totaler Quatsch, denn dadurch verplempert man nur wertvolle Zeit mit einer Sache, mit der man später nichts mehr anfangen kann. Was nützt mir ein Bachelor in Sozialwissenschaften, wenn ich später Landschaftsbau machen will? Wieso etwas durchziehen, das ich nicht brauche? Eben, es macht keinen Sinn.

Die große Lüge vom perfekten Lebenslauf

Es gibt ein Märchen, dass sich hartnäckig hält. In diesem Märchen findet ein junger Mensch in der Oberstufe seinen Traumberuf während einer Berufsorientierungswoche, fängt direkt nach einem freiwilligen sozialen Jahr ein Studium an, zieht es in der Regelstudienzeit durch, macht zufälligerweise ein Praktikum in seinem*ihrem Traumbetrieb und wird nach dem Studium natürlich auch gleich übernommen und arbeitet dann so lange in den Betrieb, bis er*sie vor Altersschwäche vom Stuhl kippt. Trotzdem ist dieser Mensch sein Leben lang glücklich, da er*sie Erfüllung im Berufsleben findet.

Dieses Märchen ist, wie das Märchen von der ersten großen Liebe, die ein Leben lang hält, für die meisten Menschen reine Utopie oder, ähnlich wie bei der Liebe, gar nicht gewünscht. Sie gaukelt uns vor, dass es nur diesen einen Weg gibt, der universell für alle Menschen zutrifft und die Erfüllung aller Wünsche darstellt. Blödsinn, denn wir sind alle so verschieden, dass ein Lebenslauf gar nicht für alle passen kann. Manche wollen alle paar Jahre etwas neues ausprobieren. Andere merken, dass sie doch ganz anders ticken als gedacht. So oder so sind alle Gründe völlig legitim. Es ist dein Leben und nur du kannst wissen, was für dich richtig ist. Höchste Zeit also, sich von dem Lebenslauf-Märchen zu verabschieden und einfach dein Ding zu machen. Da draußen wartet eine ganze Welt auf dich!

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2 Antworten zu “Kolumne: Mut zur Lücke”

  1. Das ist prinzipiell nicht falsch, denn niemand sollte etwas tun, was er oder sie hasst. Aber eine sehr stark romantisierte und priviligierte Darstellung. Speziell wenn man kurz vor einem Abschluss steht („Auch im letzten Semester. Auch kurz vor dem zweiten Staatsexamen.“) kann es wirklich nicht schaden, sich zumindest ein wenig noch zu überwinden, um im Zweifel wenigstens in einem nicht geliebten Beruf unterzukommen, damit man nicht auf der Straße landet. Es sei denn, das Herz brennt für Kellnern statt Studium.
    In diesen „Folge deinem Traum!“-Darstellungen wird immer eins vergessen: Nicht jeder hat einen reichen Papa, der einem auch beim zweiten Studienabbruch noch das WG-Zimmer bezahlt. Nicht jeder kann aus dem Stehgreif genug Geld mit dem Freelancen als Journalist für hippe Onlinemagazine genug Geld verdienen. Nicht jeder gründet nach dem Studiumabbruch ein erfolgreiches Label auf Instagram.

  2. Ich habe ein Studium abgeschlossen, für das ich weder besondere Begabung noch Interesse habe. Ich finde nicht, dass die Zeit verschwendet war. Die Gewissheit, dass ich etwas zu Ende bringen kann, hat mir Selbstbewusstsein und Stärke gegeben. Nicht nur, aber auch auf Grund dieses Studiums habe ich nun einen gut bezahlten Job, der mir Freude macht.

    Das man nur gut sein kann in Sachen, die man mit Leidenschaft macht, ist auch eine Lüge, die viele Menschen unter Druck setzt

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