Modetrend Kidcore: Vom Erwachsensein, dem Finden des Inneren Kindes und Dopamin-Dressing

28. März 2022 von in

Erinnert ihr euch noch an den Moment, als das Internet verrückt wurde, weil es Harry Styles im gestrickten JW Anderson Cardigan gesehen hatte? Das war 2020, und wir gerade mitten in den verwirrenden Zeiten von Stay-at-home. Zeitgleich fanden inmitten der Pandemie diverse Lockdown-Kults ihren Ursprung. Rückblickend alles Vorboten, die dem 2021 beginnenden Trend Kidcore den Weg ebneten – alle dadurch verbunden, dass wir sie noch heute mit der eigenen Kindheit verbinden. Tie-Dye, Acryl-Accessoires und kunterbunte Perlenketten. Nur um ein paar Beispiele zu nennen, die vor allem auf Social Media und Seiten wie Depop und Etsy trenden. Dort verkaufen uns Designer:innen und Künstler:innen die Essenz von Kidcore in Form von Produkten, die Freude bringen. Egal ob Schmuck, selbst gehäkelte Teile oder aufregende Drucke – der Fantasie und Kombinationsvielfalt sind kaum Grenzen gesetzt. Mit bunten Perlen, Charmes, Ringen aus Fimo oder Acryl – die perfekte Voraussetzung, um sich das Kidcore-Universum unkompliziert nach Hause zu holen.

How a £1,250 color-block patchwork cardigan by JW Anderson has captured the imaginations of creators on TikTok. https://t.co/ybuNDTaNCU

— Vogue Magazine (@voguemagazine) July 1, 2020

Depop, Dopamin und die Nostalgie vom Kindsein

Dadurch dass Nostalgie mittlerweile ein fester Bestandteil unserer Lebensrealität geworden ist, in der wir nicht nur das Gestern, Damals oder 2019 vermissen, kommt Kidcore als Retter der Tristesse wie gerufen. Statt monochromen Looks und All Black Everything strahlen die Feeds seit geraumer Zeit in allen Farben des Regenbogens. Mix und Match ist die Norm, und keiner hat mehr Angst vor Farben – so die Theorie. Denn verspielt, kindlich und dennoch altersgerecht spielt der Trend am liebsten mit starken Kontrasten und den Primärfarben Gelb, Rot, Blau. Will sich nicht verstecken und sorgt für ein Dopamin-Peak – bei Träger:innen und Alltagsbegegnungen.

Je nachdem, wie sehr man sich ihm verschrieben hat, gibt es natürlich auch weitere Sub-Genre, die ihren Fokus auf bestimmte Serien oder Strömungen legen. Was dazu führt, dass selbst die weniger farbaffinen Vertreter:innen durch den Einsatz von Pastell oder Vintagetönen einen Platz in der Kidcore-Riege finden. Welche sich über Kleidung der Idee von einfachen Zeiten und Schwerelosigkeit nähert. Inspiriert aus dem Bild des Kindseins der 90er und der damals populären cartoonlastigen Popkultur und ihrer Farbwelt. Der perfekte Platz also, um in einem kunterbunten Potpourri offensiv optimistisch sein zu können und im Sonnenschein zu wandeln.

 

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Alltagsflucht zum Anziehen oder auch Erwachsenen, die sich wie Kinder kleiden

Der Trend, welcher als Gegenpol zur hyper-sexualiserten 00er-Bewegung, dem Euphoria-Hype sowie den half-naked Looks gesehen werden kann, spielt mit dem Grundsatz von „The Simple Life“. Mit weniger Trash als das Serienformat fokussiert er sich auf Einfachheit, Funktion und Komfort. Die Devise lautet „Carefree-Dressing“. Was nicht auszuschließen lässt, dass die massive Kombination aus Farbe und Muster für einige durchaus überfordernd wirken kann – doch das Gegenteil ist gewünscht. Im Endeffekt geht es darum, keine Regeln zu haben und sich völlig losgelöst von allem für sich selbst anzuziehen. Eben Dopamin-Dressing gegen graue Tage, Pandemie und alles, was ein potenzieller Stressor sein könnte. Die Kleidung wird somit zum Stimmungsbooster und erhellt uns mit ihrer kontrastreichen Art den Tag – als Alltagsflucht zum Anziehen.

Denkt man diesen Booster weiter, dann lässt sich ein weiterer Indikator für den Trend Kidcore oder den daraus entstehenden Lifestyle in der Psychologie finden. Nichts anderes passiert hierbei nämlich, als dem Gehirn eine bestimmte Einstellung zu suggerieren: Don’t worry, be happy! Der Trend spielt viel mit einer Praxis, die als Altersregression bekannt ist und das Zurückfallen in frühkindliche Verhaltensmuster (hier: bezogen auf Bekleidung) beschreibt. Auslöser für diese Art Coping-Mechanismus kann beispielsweise Stress sein. Etwas, mit dem wir seit Beginn der Pandemie sehr vertraut sind. Kaum verwunderlich also, dass sich die Menschen andere Wege suchen, um eine Auszeit davon und einen Ausgleich für sich selbst zu bekommen. Denn alle wissen: Eine kleine Pause tut gut und sorgt dafür, dass wir unsere Akkus wieder aufladen können.

This adulting life is too hard. One minute you are rich, the next minute… you are a mathematician

— feyisayo 💸 (@muhdfeyi) February 6, 2022

Kidcore vereint Mode und Psychologie

Durch die Pandemie ist Selfcare zum festen Bestandteil des Alltagsjargons geworden, und wir suchen immer neue Mittel und Wege, uns mit dem eigenen Ich auseinanderzusetzen. Inklusive der Wirkungsweisen der eigenen Umwelt. Auch der Kulturanthropologe John Carl Flügel und der Soziologe Georg Flügel erkannten bereits um 1930 und 1905 den Zusammenhang von Psyche und Bekleidung und erforschten die damit zusammenhängenden Konzepte und Verhaltensweisen. Themen, die auch heute noch beschäftigen und in Kombination mit dem Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ von Stefanie Stahl, das Gerüst des Kidcore-Tends bilden. Indem es um die Korrelation von Erwachsen sein und frühkindlichen Erfahrungen geht, die uns bis heute prägen und viel Aufschluss auf eigene Verhaltensweisen geben können. Denn egal, ob das Menschliche-Sein, die Art und Weise des Bekleidens – alles ufert aus tieferliegenden Gründen. Die wir vermeintlich nicht kennen oder erkennen wollen, da sie intrinsisch und im Verlauf des Lebens ihren Ursprung finden.

Aus dem Leben, in dem man unbedingt erwachsen werden möchte oder auch nicht. Wie Peter Pan. Nach welchem in den 80er-Jahren von dem Psychologen Dan Kiley ein Syndrom benannt wurde, bei welchem Betroffene ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Was die Kindergeschichte fast zu einer Art Blaupause für den Trend macht, bei dem es darum geht (zumindest modisch) nicht erwachsen zu werden und sich die kindliche Leichtigkeit zu erhalten. Jedoch ohne dabei das Leben aus den Augen zu verlieren und sich selbst gleich mit. Mehr eine Art Schutz oder Pufferzone bietet zu allem, was gerade geschieht. Denn wenn Kidcore eins gemeistert hat, dann das sich wohl und sicher fühlen – in der eigenen Haut. Weil sich alle Komponenten daran seltsam vertraut und wohlig anfühlt.

 

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Ist Kidcore eine visuelle FOMO oder Mittel zum Zweck?

Der Trend ist also ein modisches Mittel fürs Gemüt, um sich kurzzeitig eine Atempause von starken Gefühlen zu holen. Sich aber auch gegen Dinge zu wappnen, die einen überfordern oder sich nicht einordnen lassen und können. Denn der Stil und seine Einstellung profitieren von der Vereinfachung. Ohne den hohen Anspruch von Minimalismus und mit mehr Freiraum für Experimente. Doch irgendwo ist Kidcore aber auch ein wenig (visuelle) FOMO – die in kindlicher Manier alles Verpasste nachholen möchte. Und die Unbeschwertheit für die Ewigkeit konservieren will.

Unmögliches Unterfangen oder genau das, was wir gerade brauchen?

So oder so beweist der Trend einmal mehr, wie sehr die Art und Weise des Kleidens mit den äußeren Faktoren unseres Lebens zusammenhängt. Und wir sie nutzen können, um ohne Sprache zu kommunizieren, wie es in und um uns aussieht. Und gerade brauchen wir alle ein klein wenig oder extra viel von diesem modischen Dopamin-Booster. Der Flügel verleiht und ein wenig vom Ernst des Lebens ablenkt oder ihn zumindest so weit überspielt, dass wir ihn weglachen können.

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2 Antworten zu “Modetrend Kidcore: Vom Erwachsensein, dem Finden des Inneren Kindes und Dopamin-Dressing”

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