Schlecht reden: Über das Gewicht von Tratsch und übler Nachrede

15. September 2020 von in
Foto: Anna Shvets

Die in Berlin und Tel Aviv lebende Journalistin und Schriftstellerin Mirna Funk beschäftigt sich mit der Präsenz jüdischer Kultur in Deutschland. Für VOGUE erzählt sie in ihrer Kolumne „Jüdisch heute“ von ihrem Alltag als deutsche Jüdin – und nimmt uns damit mit auf eine Reise in eine Welt, über die wir eigentlich kaum etwas wissen. In diesem Text schreibt sie darüber, warum üble Nachrede im Judentum zu den schweren Sünden zählt – und was Respekt damit zu tun hat. Dieser Text erschien zuerst auf Vogue.de.

Es war die dritte Partie Shesh Besh, also Backgammon, die ich gewann. Wir saßen auf dem Balkon – L. und ich. Der warme Juni-Wind fegte durch die Pappeln, die vor ihrem Haus standen, und nahm Berge von Sommerschnee mit sich mit, die er über den gesamten Hinterhof verteilte. Auch auf unserem Brett landeten ein paar weiße, weiche Flocken. Ich nahm die Würfel in die Hand, schüttelte sie und verlor mich für einen kurzen Moment in L.s faltiger Haut. Wir hatten uns vor Jahren im Flieger nach Tel Aviv kennengelernt. Wo auch sonst. Unzählige Freundschaften sind so entstanden. Ob man sich am Flughafen begegnet und ins Gespräch kommt oder nebeneinander sitzt und sofort anfängt zu plappern – jeder, der regelmäßig nach Israel fliegt, wird diese Erfahrung mit mir teilen können.

“Du weißt schon, dass ich dich gewinnen lasse”, sagte sie, und ich nickte, schlug meine Augen nieder, wissend darum, dass diese Aussage gelogen war. “Das mache ich, um dich aufzubauen”, fügte sie hinzu.
“Du musst mich nicht aufbauen”, antwortete ich schroff.
“Doch, doch. Jeder, der lashon hara zum Opfer fällt, verdient es, bei Shesh Besh zu gewinnen.”
“Ich spiele einfach besser als du.”
“Wehe, du behauptest das außerhalb dieser vier Wände. Dann würdest du sündigen wie die anderen.”
“Nein, nein. Keine Sorge. Außerdem will ich in die kommende Welt”, sagte ich, tat so, als wüsste ich nicht, was man mit der Zahlenkombination 5 und 6 am besten tun sollte, und verhalf L. zu ihrem ersten Sieg.

Lashon hara bedeutet “böse Zunge” und kann mit übler Nachrede, Klatsch oder öffentlicher Beschämung übersetzt werden. Lashon hara zu verbreiten, ist eine schwere Sünde im Judentum. Bei Rambam (Maimonides) heißt es sogar: “Für drei Sünden bezahlt der Mensch in dieser Welt und hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt: Götzendienst, Inzucht und Mord − und üble Nachrede ist so schlimm wie all diese drei zusammen.” Deswegen ist “Gehe nicht als Zwischenträger in deinem Volk herum” auch eine der 613 Mizwot der Tora. Der “Zwischenträger” ist derjenige, der Behauptungen oder negative Äußerungen über eine Person weitergibt.

Nun gibt es im Judentum drei Unterscheidungen für das Sprechen über Dritte: lashon hara, das boshafte Sprechen über eine Person, hotzaat shem ra, das Verbreiten von Lügen über eine Person und rechilut, was man mit klassischem Klatsch übersetzen kann. Alle drei Verhaltensweisen sind halachisch, also nach dem jüdischen Gesetzbuch strengstens verboten. Wenn man zum Beispiel durch Mea Sherim läuft, den orthodoxen Stadtteil Jerusalems, kann man an den Wänden Poster finden, mit denen daran erinnert werden soll, weder Klatsch noch üble Nachrede zu betreiben.

„Nun gibt es im Judentum drei Unterscheidungen für das Sprechen über Dritte: lashon hara, das boshafte Sprechen über eine Person, hotzaat shem ra, das Verbreiten von Lügen über eine Person und rechilut, was man mit klassischem Klatsch übersetzen kann.“

Die gelehrten Rabbiner wussten um diese zutiefst menschliche Eigenschaft und die große Versuchung, der man schneller anheimfällt als es einem lieb ist. Sie gaben zwei Möglichkeiten zur Selbsthilfe: Der erste Weg ist Selbstdisziplin und Abstinenz. Dem alltäglichen Impuls in Klatsch zu verfallen, muss aktiv entgegengewirkt werden. Von niemandem sonst außer sich selbst. Dabei geht es heutzutage über das reine Sprechen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe hinaus. Denn mittlerweile haben wir durch die Möglichkeiten des Internets, die fatale Chance, Falschaussagen oder schiere Behauptungen über Menschen tausende Kilometer weit zu streuen. Meistens haben wir die Personen, über die wir schlecht sprechen noch nie getroffen oder gesprochen. Der Schaden, den wir mit lashon hara anrichten, kann von uns nicht einmal mehr nachvollzogen werden, weil wir nicht Teil des Sozialen Umfelds sind und keinen Einfluss auf die Verbreitung der üblen Nachrede haben.

Eine weitere Alternative, wie wir lashon hara entgegenwirken können, kommt von Rabbi Schneur Zalman von Liadi, dem ersten Rebbe von Chabad. Er ermahnt uns, ständig unsere Sprache zu überprüfen. Ist sie hart und bösartig? Versuchen wir eigene negative Gefühle auf jemand anderen zu projizieren? Sind wir eigentlich nur neidisch, wütend, missgünstig? Ein Mensch, der daran arbeitet, wirklich jeden Menschen zu respektieren und alle negativen Einstellungen aus seinem Herzen zu löschen, wird ein instinktiv liebevoller Mensch.
Nachdem ich L. noch mindestens zwei Partien Shesh Besh hatte gewinnen lassen und die Sonne langsam untergehen wollte, verabschiedete ich mich innig von ihr. Dann stieg ich ins Auto, machte laut Carole Kings “Tapestry”-Album an und fuhr mit offenem Fenster langsam den 17. Juni entlang. Ich dachte an all die Male, in denen ich mit lashon hara für Schmerz und vielleicht sogar Schaden gesorgt hatte, ich dachte an meinen Roman “Winternähe”, der mit folgenden Worten endete: “Jede Person, mit der wir sprechen, ist angefüllt mit eigener Geschichte. Einer Geschichte, zu der wir niemals einen vollständigen Zugang haben werden. Und trotz dieses fehlenden Zugangs muss diese Geschichte, obwohl wir von ihr nicht wissen, immer mitgedacht werden.”

“Jede Person, mit der wir sprechen, ist angefüllt mit eigener Geschichte. Einer Geschichte, zu der wir niemals einen vollständigen Zugang haben werden. Und trotz dieses fehlenden Zugangs muss diese Geschichte, obwohl wir von ihr nicht wissen, immer mitgedacht werden.”“

Ohne, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon bewusst mit lashon hara beschäftigt hatte, schien ich unbewusst die 5 780 Jahre alten Lehren mit in mein Denken aufgenommen zu haben. So wie es gläubige Juden jeden Tag – morgens, nachmittags und abends am Schluss der Schmone Esre – tun, betete auch ich an diesem Abend vor dem schlafen: “Mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem und meine Lippen, Falsches zu reden.”

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