Short Cut: Die unendliche Geschichte Teil 2 von Mercedes Lauenstein

31. Juli 2019 von in

Ist ein Ende vielleicht viel spannender als ein Anfang? Was will ich eigentlich von der großen Idee Zukunft? Diese Fragen muss sich Dora stellen, die Protagonistin unserer neuen Kurzgeschichten-Serie „Die unendliche Geschichte„. In ihr bitten wir von Monat zu Monat einen anderen Autor oder eine andere Autorin, Doras Story weiterzuschreiben.
Die zweite Ausgabe von „Die unendliche Geschichte“ hat  Autorin Mercedes Lauenstein übernommen.

Die Geschichte erschien zuerst auf Vogue.de

„Die Sache ist halt, ich werde die Suppe nur zur Hälfte essen“, sagte Dora, etwas zu laut.
„Aha, die Sache also. Welche Sache?“, erwiderte Navid.
Für seltsam lange fünf Sekunden sahen sich die beiden einfach nur an.

Sie würde die Hälfte der Suppe essen und die andere Hälfte einfrieren. Nicht weil sie plötzlich anfing, an Hellseherinnen zu glauben. So degeneriert war sie nicht. Nur als Vorsichtsmaßnahme. Einfach nur als Vorsichtsmaßnahme.

Dann begann es aus der Vietnamesen-Tüte auf den Flurboden zu tropfen.
Navid fiel es zuerst auf.

„Oh“, sagte er. „Also sorry, aber wenn ich Suppe liefern würde, wär halt das Erste, was ich machen würde, ne ordentliche Verpackung zu orga….“
„Wah!“, schrie Dora. „Gib sofort her, um Gottes Willen, so eine Scheiße, halt das grade, halt das grade, gib her!“

Dora kniete sich auf den Boden, tastete in der Tüte nach dem Suppenbehälter, richtete ihn irgendwie darin auf und nahm Navid dann die Tüte aus der Hand, um damit in die Küche zu eilen.

„So schlimm war es auch nicht. Entspann dich mal“, sagte Navid, hinterhereilend.
„Die Suppe darf einfach auf keinen Fall…“
Und dann, mitten im Satz, kamen sie endlich, die Tränen.

Während sie ihr die Wangen hinunterliefen, legte sie die Tüte auf dem Küchentresen ab, holte hektisch den Suppenbehälter hervor, hob ihn an, kontrollierte seinen Boden, stellte ihn wieder ab, nahm den Styropordeckel ab und atmete auf: Das Leck war nicht dramatisch gewesen, lediglich der Deckel hatte etwas gesifft und die Tüte war undicht gewesen, der Behälter hingegen noch voll.

Navid legte seine Arme um Doras Hüften, drehte sie sanft zu sich, küsste sie auf die Nase und fragte: „Diagnose Übersprungshandlung? Komm mal her.“

Er nahm sie in den Arm.

Dora weinte weiter und immer stärker und konnte kaum mehr damit aufhören. Sie musste sich bemühen, nicht zu schluchzen, sie hasste Schluchzen. Sie hasste die Dramatik von Schluchzen, mein Gott, sie war immer noch eine beschissen privilegierte weiße Frau mit deutschem Pass, bester Ausbildung, tollem Lebenslauf, hatte einen fantastischen Partner, war gesund, jedenfalls bis auf diesen, keine Ahnung…Reizdarm? Der wahrscheinlich nicht einmal einer war, sondern nur eine normale menschliche Verdauungstätigkeit, die einem in diesem beschissen degeneriertem Instagram- und Schönheits-OP-Zeitalter völlig mittelalterlich vorkam. Vor allem als Frau. Es waren ja merkwürdigerweise ausschließlich Frauen, die sich irgendwelche Darmkrankheiten und Lebensmittel-Allergien einbildeten, oder nicht? Nur weil sie ein paar Mal am Tag pupsen mussten und auf dem Klo unkontrollierte Geräusche von sich gaben.

Überteuerte Feminismus-T-Shirts und Free-Bleeding-Podcasts my ass, dachte Dora. So lange Frauen selbst ihre Verdauungstätigkeit noch als Krankheit betrachteten, hatte der Feminismus einen Scheißdreck erreicht.

Schlechte Welt.

Sylt.
New York.
Pho.
Hellseher.
Die Kündigung.
Ali.

Um Gottes willen, er hatte ihr ernsthaft ein Date vorgeschlagen.
Sie hatte ihre Großmutter schon viel zu lang nicht angerufen.
Aber in dem Zustand?
Ach scheiße, und Ina! Die Essenseinladung morgen Abend, sie hatte nicht mehr auf die Nachricht geantwortet.

Und die Krankenversicherungssache.
Wieder der Gedanke an Ali.

Sie hatte manchmal davon geträumt, wie es wäre, wenn er sie wollen würde, wenn sie heimlich Sex auf der Agenturtoilette hätten, und sie hatte es gut gefunden, erbärmlicher Autoritätskomplex, wie früher diese Träume von Affären mit Lehrern. Darf man auch niemandem erzählen. Beruhigend aber: Jetzt, wo er sie im echten Leben angemacht hatte, widerte es sie an. Außerdem wie krank muss man sein, jemandem zu kündigen und im selben Move nach einem Date – was ein Würstchen.

Ihr Kontostand.
Navids Idee mit Sylt.
Die Suppe einfrieren, verdammt, die Suppe einfrieren.

Ja. Nein. Doch.

Zahnreinigung.
Seychellen.
Der Pitch für…achso, da war sie ja jetzt raus.

Scheiße.

Völlig unkoordiniert regneten die Gedanken auf Dora ein, ihr wurde schwindelig.

Noch nicht einmal Kinder hatte sie zu versorgen, worin zur Hölle bestanden ihre Befürchtungen? Diese Scheißkündigung war nichts anderes als eine Aufforderung zur Veränderung, eine Chance auf einen neuen Lebensabschnitt, auf einen Kurswechsel, andere Leute führten so einen Cut freiwillig herbei.

Aber apropos Kinder versorgen. Sie war 34. Die Vereinbarung zwischen ihr und Navid war immer gewesen: Noch ein Jahr.

Seit fünf Jahren.

Maximal zwei Jahre noch und Doras Frauenarzt würde ihr vorsichtig zu sagen versuchen, was ihre Familie ihr seit etwa sechs Jahren nonverbal vermittelte: Sie sollte langsam mal eine Entscheidung treffen, die Wechseljahre klopften an.

Provinzielle Bauern, dachte Dora. Alle.

Sie war ein global girl, ein New York girl. Und die Welt war übervölkert genug. Und sie hasste junge Eltern. All ihre Freunde, die Eltern geworden waren, hatten sich zu verängstigten Kleinbürgern mit Fahrradhelmen, Warnwesten und Tupperdosen im neongrünen Deuter-Rucksack verwandelt.

All ihre Freunde, die Eltern geworden waren, hatten sich zu verängstigten Kleinbürgern mit Fahrradhelmen, Warnwesten und Tupperdosen im neongrünen Deuter-Rucksack verwandelt.

Lieber einsam sterben als so enden.

Wie alt würde sie überhaupt werden? Der Gedanke machte sie jedes Mal aufs Neue fertig: Kein Mensch auf der Welt wusste, wie lange er am Leben sein würde.

„Wenn die Suppe leer ist, ist alles vorbei.“

Was hatte das zu bedeuten? Drohte ihr nach der Pho ein Schlaganfall? Quatsch. Kindergartengedanken. Warum gab sie diesem idiotischen Spruch so viel Macht? Er hatte nichts mit der Realität zu tun. Wenn überhaupt, diente er als Spiegel ihrer eigenen Ängste, wie jedes esoterische Orakel, vom Glückskeks bis zur Tarot-Karte. Er hatte die Bedeutung, die sie ihm gab, fertig.

Doch so sehr sie sich diese Gedanken glauben wollte, die Suppe jagte ihr Angst ein.
Sie würde sie nur zur Hälfte essen und dann einfrieren.
Als Vorsichtsmaßnahme, einfach nur als Vorsichtsmaßnahme.

„Komm, wir essen erstmal, das wird doch alles kalt“, sagte Navid.

Normalerweise deckten sie den Tisch, wenn sie sich etwas hatten kommen lassen. Sowohl Dora als auch Navid hegten eine tiefe ästhetische Abneigung gegen das Essen aus Styroporverpackungen. Im Laufe der Jahre hatten sie sich eine ausgesuchte Sammlung an Porzellan und Keramik zugelegt, von der es nicht nur eine sinnliche Freude war, zu essen, sondern die ihnen auch das sichere Gefühl gab, ihren Studenten-Tagen heil entkommen zu sein und ihr Leben im Griff zu haben.

Doch heute setzten sie sich in stillem Einverständnis mit den Styroporbechern an den Tisch. Dora konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das zuletzt getan hatten. Sie hatte aufgehört zu weinen.

„Gehts wieder besser kleiner Frosch?“, fragte Navid.
„Wieso denn Frosch?“ Navid hatte sie noch nie „Frosch“ genannt, er war kein Typ der Kosenamen. Dora fand es gleichzeitig albern und völlig deplatziert und musste lachen.

Er grinste.

„Ist das was Persisches?“, fragte sie ihn.
„Nö.“

Verheult lächelte sie ihn an. „Ach, keine Ahnung. Es ist natürlich immer noch scheiße.“

„Und was war das jetzt eben mit dass du die Suppe sowieso nur halb essen würdest?“, fragte Navid.
„Keine Ahnung, hab ich das gesagt?“, sagte Dora. „Erinner mich nicht dran. Keine Ahnung. Wirklich keine Ahnung. Wahrscheinlich werde ich langsam verrückt.“

Navid lachte.

Er biss in seinen Bun, Dora begann, ihre Suppe zu löffeln.

Verdammt, tat das gut. Diese leichte Schärfe, die Limette, das Koriander-Aroma, das zarte Rindfleisch, die Nudeln, Sternanis, jetzt kam der Hunger.

Natürlich würde sie die Suppe aufessen. Alles andere wäre der Beginn einer unheilvollen Geisteserkrankung. Die Hälfte der Suppe einfrieren, aus Angst vor den Sprüchen irgendeiner dahergelaufenen Gauklerin, ja, genau, soweit käme es noch.

„Oh Gott, der Abstieg hat begonnen, wir essen aus Styropor“, sagte Dora und lachte.
„Ist doch eigentlich ganz romantisch, oder?“ sagte Navid.

Navid war großartig. Er ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Er war ihr Fels in der Brandung. Es würde alles gut werden, mit ihm an ihrer Seite würde alles gut werden, und ein für alle Mal beschloss sie, diesen Gedanken nicht unemanzipiert zu finden. Sondern menschlich.

Sie aßen schweigsam. Als sie den letzten Löffel ihrer Suppe gegessen hatte, den Styroporbehälter zum Mund geführt, die darin verbliebenen Brühe-Reste ausgetrunken und den Behälter wieder auf dem Tisch abgestellt hatte, suchte sie nach Navids Blick, um ihm zuzulächeln. Woher wusste er immer, was sie brauchte, ohne dass sie es ihm sagen musste?

Vielleicht war Sylt gar keine so schlechte Idee.
Aber als er von seinem Styroporbehälter aufsah und ihre Blicke sich trafen, sah er verändert aus.

In seinen Augen lag ein merkwürdiger Ernst.

„Was ist denn jetzt los?“, fragte sie.

„Hast du auch noch eine schlechte Nachricht bekommen heute, oder habe ich dich einfach nur total runtergezogen mit meinem Geflenne?“

„Dora“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Ich weiß, es ist der beschissenste Zeitpunkt der Welt, dir das jetzt zu sagen. Und als du vorhin mit der Kündigungsnachricht kamst, hatte ich beschlossen, damit noch zu warten. Und dann wollte ich dich aufmuntern und habe das mit Sylt gesagt, im Affekt, aber weißt du, ich warte schon viel zu lange. Und ich kann nicht mehr. Und das mit Sylt hat überhaupt keinen Sinn, weil ich…ich hasse mich dafür, dass ich das vorhin ins Spiel gebracht, und dass ich dir jetzt, aber…“

„Was?“ Doras Stimme zitterte.
„Scheiße, was verdammt?“

Doras Stimme krächzte.

„Ich habe jemanden kennengelernt.“
Dora sah in ihren Styroporbehälter. Die Suppe war leer.
„Sie ist schwanger.“

Mercedes Leona Lauenstein schreibt Texte über Alltag, Lebenswelt, Zeitgeist für Zeitungen und Magazine wie Süddeutsche Zeitung, Monopol oder jetzt.de. 2015 erschien ihr literarisches Debüt „Nachts“ im Aufbau Verlag, 2018 folgte ihr zweites Buch „Blanca“. Mehr Informationen findet ihr hier.

Photocredit: Donari Braxton & Unsplash

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