Weniger Selbsthilfebücher, mehr Geschichten: Warum ich überzeugt bin, dass uns Romane so viel mehr lehren

19. April 2023 von in

Mit elf Jahren habe ich mich unsterblich in Jugendromane verliebt. Wöchentlich drehte ich das Sparschwein um, kratzte alles zusammen, bat meine Mama um das Aufrunden der Beträge (für Bücher durfte ich immer gerne Geld ausgeben und zu der Zeit kosteten Bücher maximal 9 Euro) und verzog mich in die größte Bücherei in meiner Nähe, die im Keller ein ganzes Paradies voller spannender Jugendliteratur bereithielt. Teilweise bin ich die ganze Nacht wach geblieben, um vollends in die Bücher abzutauchen. Den Effekt, den diese Geschichten, die jemand Kluges sich ausdachte und dann aufschrieb, auf mich hatten, sorgten dafür, dass ich unzählige Bücher innerhalb von wenigen Stunden beendete. Irgendwann hörte die Liebe zu Romanen plötzlich auf.

*In diesem Text schreibe ich von Romanen, damit inbegriffen sind aber auch inkorrekterweise Kurzgeschichten und Novellen 

Ich wurde erwachsen und der Drang nach Selbstoptimierung begann. So tief der Wunsch, nach einer schönen Geschichte auch war, ich hatte immer das Gefühl, dass es Zeitverschwendung wäre, Romane zu lesen, die mich im Leben nicht weiterbringen – so dachte ich zumindest. Bis mich mich ausgerechnet ein Buch der umstrittenen „Kitschroman“-Autorin Colleen Hoover zum Umdenken brachte. 

Ich tauchte ab – in die Welt der Selbsthilfebücher 

Damals wollte ich plötzlich nur noch Lesestoff, mit plakativen Titeln wie:  „10 Schritte zum…“. Ich kämpfte mich also durch dutzende Sachbücher, deren einzige Ziel es war, mich weiterzubilden – persönlich und beruflich. Dabei lernte ich einiges über Meditation, über Morgenroutinen, las, wie wichtig Kommunikation ist, und wie bekannte und erfolgreiche Persönlichkeiten ihren Alltag gestalteten. Rückblickend hätte auch ein Bruchteil dieser Lektüren gereicht, denn die Formel für vermeintlichen Erfolg (oder eher das, was von der Gesellschaft als Erfolg vorgegeben wird) ist immer dieselbe: Disziplin + ein geregelter Alltag + frühes Aufstehen + viel Bewegung + gesundes Essen + gesundes Selbstbewusstsein + positives Mindset + all das, was wir längst verinnerlicht haben = tolles Leben. So hilfreich und nützlich diese Art von Literatur auch ist, umso anstrengender kann es sein, wenn man sich von einer scheinbaren Kopie einer Kopie, von Seite zu Seite kämpft. 

 

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Ich schielte währenddessen oftmals zu den Romanen in meinem Bücherregal, teilweise gelesen, teilweise seit Jahren wartend, wohl wissend, dass ich diese Bücher sofort verschlingen würde – anders als die Selbsthilfebücher, an die ich mich so verbissen klammerte. Doch die innere Stimme tadelte mich immer wieder mit Sätzen wie: „Wenn du diese Bücher liest, verschwendest du deine Zeit, du lernst nichts, du kommst im Leben nicht weiter.“

Was wir von Romanen lernen können

Und dann kam die Liebe doch zurück. Als ich irgendwann verstand, wie viel wir aus Romanen eigentlich lernen können. Die Unterhaltungsliteratur bringt uns unglaublich viel bei. Etwas, was in unserer Leistungsgesellschaft viel zu selten gelehrt und geschätzt wird: Empathie und Einfühlungsvermögen. Romane lehren uns, wie wir uns besser in andere Menschen hineinversetzen, wie wir Gefühle von anderen besser verstehen und wie wir besser mit ihnen umgehen können. In unseren eigenen Kreisen verkehren wir oftmals mit Gleichgesinnten, wir lieben Parallelen und möchten diese auch in unseren Kontakten wiederfinden. Allerdings befinden wir uns dadurch oftmals und gerne in unserer eigenen geschlossenen Bubble, verlieren schnell den Blick für andere Lebensrealitäten. Romane führen uns genau dorthin.

Wie ausgerechnet eine umstrittene Autorin meine Meinung über Romane änderte  

Doch wie kam ich überhaupt darauf, mir erst kürzlich Gedanken zu dieser Thematik zu machen, wobei ich doch schon so viele Romane in meinem Leben gelesen hatte? Ausgerechnet die derzeit gehypteste, aber auch umstrittensten Schriftstellerin überhaupt, brachte mich zu diesem Gedanken, den ich nach einem ihrer Büche intensivierte. Wenn man gerne und viel liest, dann favorisiert man meist ein Genre, lässt aber stellenweise ein bisschen Platz für andere Themen – zumindest ist das bei mir so. Es war also Zeit für einen Stellvertreter meines eigentlichen Büchergeschmacks, ich wollte etwas Herzschmerz, daher wurde es ausgerechnet: Collen Hoover. 

Colleen Hoover wird in den sozialen Medien seit langer Zeit wortwörtlich zerrissen. Kritisiert wird sie aus verschiedenen Gründen: Erst kürzlich, weil sie ergänzend zu einem ihrer Bücher, in dem es primär um häusliche Gewalt geht, ein Malbuch für Kinder herausbrachte. Völlig unpassend. Erst der Gegenwind ihrer Leser:innen öffnete ihr die Augen, später entschuldigte sie sich.

Aber zuvor, also zu der Zeit, in der ich mich mit ihr befasste, stand besonders der Anspruch ihrer Werke im Fokus der Kritik. Ihre Romane wurden mit verschiedensten kritischen Adjektiven beschrieben: kitschig, nicht-literarisch, unnötig. All die Kritik zu ihrer Person, zu ihren Büchern und zu ihrer Schreibart, machte mich damals ziemlich neugierig. Ich wollte selbst lesen, bevor ich kritisiere. Also las ich eines ihrer Bücher. Ihre Werke lassen sich zügig lesen und ziehen die Leser:innen – jedenfalls laut BookTok und Co. – schnell in ihren Bann. 
Mit einer viel zu geringen Erwartungshaltung und dem Wunsch nach leichter Kost nahm ich mich dem Buch an. Am Ende wurde ich von einem ziemlich ernsten inneren Konflikt und jeder Menge Tränen überrascht. Über dieses Buch dachte ich wirklich sehr lange nach. 

Ein Buch, von dem ich nichts erhoffte, was mich aber lange noch beschäftigte 

In dem Buch „Reminders of Him“ von Colleen Hoover geht um eine junge Frau, die aus dem Gefängnis entlassen wird. Sie saß dort mehrere Jahre wegen unterlassener Hilfeleistung, weil sie ihren Freund und Vater ihrer kleinen Tochter nach einem gemeinsamen Autounfall am Unfallort zurückließ, wo er schließlich verstarb. Ihre kleine Tochter, die sie während ihrer Haft zur Welt brachte, lebt seitdem bei den Eltern ihres verstorbenen Freundes. Ihr einziges Ziel nach der Entlassung: Ihre Tochter wiederzubekommen und ihr eine gute Mutter zu sein. Sie tut alles dafür, eine gute Mutter zu sein. Alle anderen möchten sie daran hindern, und meinen, ihre Geschichte zu kennen. Doch das tun sie nicht. 

Das Buch ließ mich mit etlichen moralischen Fragen und einem Gefühlschaos der besonderen Art zurück. Ich hinterfragte zwischenzeitlich meine eigenen, versteiften Grundsätze und auch mein drastisches Urteilsvermögen. Ich hatte ein enormes Mitgefühl für alle Protagonist:innen in diesem Buch: für die Hauptfigur, aber auch für die Eltern, die aufgrund dieser Frau ihren Sohn verloren haben und ihr Enkelkind verständlicherweise nicht mehr hergeben möchten. 

Hätte mir jemand diese Geschichte erzählt, ohne all die ausgedachten, aber wichtigen Details in diesem Buch, wäre mein Urteil nicht verhandelbar. Und das, obwohl ich mich selbst als ziemlich emphatisch bezeichnen würde. Dieses Buch zeigt deutlich, wie wichtig es ist, anderen Menschen genau zuzuhören und ihnen – trotz eigener Sturheit – die Chance zu geben, ihre Geschichte zu erzählen. Wie bedeutend Mitgefühl, Verständnis und Toleranz ist und dass wir von Dritten selten die ganze Wahrheit erfahren. 

Versteht mich nicht falsch: Nicht erst die Geschichte einer kontroversen Schriftstellerin hat meinen gesamten Blick auf Romane verändert, doch ausgerechnet diese Geschichte und die Gefühle, mit denen sie mich zurückließ, intensivierte einen Gedankengang: Habe ich aus all den Romanen nicht unheimlich viel gelernt? Ich setzte mich also vor mein Bücherregal, unter mir der kratzige Vorleger, und bewegte meine Augen von links nach rechts. Sah mit den Augen die Titel, überflog in meinem Kopf kurz die jeweilige Geschichten und merkte schnell, wie viel ich aus diesen Büchern mitnahm.

Wie unklug von mir zu denken, dass einzig dieses Gefasel (entschuldigt bitte) von ständiger Selbstoptimierung mich im Leben weiterbringen würde.

 

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Meine kurze Liebeserklärung an Romane

Romane berühren uns. Romane können Gefühle in uns erwecken, die wir lang nicht mehr gespürt haben. Sie können dafür sorgen, dass wir in Welten abtauchen, die wir ohne Bücher nie erkunden dürften. Sie schenken uns Lebensweisheiten, die uns noch jahrelang begleiten. Romane erwecken unsere romantische Seite, unsere melancholische Seite, unsere sensible Seite, unsere starke Seite oder einfach eine ganz neue Seite in uns.

Oftmals zeigen uns Romane, worauf es im Leben ankommt: Freundschaft, aufrichtige Verbindungen, Liebe (und damit mein ich nicht nur die romantische Form von Liebe). Sie lehren uns, wie wichtig es ist, mit offenen Augen und Armen durchs Leben zu gehen. Romane zeigen uns auch, wie privilegiert wir sind oder schützen uns, vor fatalen Entscheidungen. Sie beleben unser inneres Kind wieder.

Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr euch selbst mitten im Buch plötzlich daran erinnern müsst, dass es nur ein Buch – und nicht die Realität – ist? Nein? Dann wird es Zeit für einen richtig tollen und mitreißenden Roman.

Die Wissenschaft beweist: Romane fördern das Empathievermögen

All das, wurde auch wissenschaftlich belegt: Verschiedene Studien zeigen, dass Romane die Fähigkeit fördern, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das wurde an verschiedenen Literaturgruppe getestet: unabhängig von Alter, Bildung oder Geschlecht. „Belletristik vergrößert unser Verständnis für das Leben der anderen und hilft uns dabei, Gemeinsamkeiten zu erkennen“, schrieben New Yorker Forscher über die Ergebnisse dieser Studien. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Literatur auch teilweise bei Gefängnisinsassen eingesetzt wird, um das Mitgefühl zu fördern.

Bücher sind ein Segen, oder? 

Lesen gehört mittlerweile zu meinem Leben dazu, wie das Zähneputzen. Und das, weil ich mich entschieden habe, mein Leseverhalten nicht an Leistung zu knüpfen, sondern einfach all das zu lesen, was sich für mich gut und richtig anfühlt. Lasst uns also Bücher verschlingen, die uns berühren, die uns zum Lachen bringen oder uns inspirieren. Ganz gleich, welchem Genre sie angehören. 

Meine liebsten Romane: 

Hier sind einige Romane, die ich teilweise immer wieder lese, weil sie viel in mir auslösen. Lest sie gerne selbst und schaut: Jede:r nimmt etwas anderes aus diesen Büchern mit – und das ist wunderbar.

  • Meine neuste Liebe: »All das zu verlieren« von Leïla Slimani
  • Ein Buch voller Weisheiten, Schönheit, Hass und Liebe:  »Das Bildnis des Dorian Gray« von Oscar Wilde
  • Voller relevanter, gesellschaftlicher Themen: »Gespräche mit Freunden« von Sally Rooney
  • Ein Buch geschrieben von und für Gen Y: »Super, und dir?« von Kathrin Weßling
  • Natürlich & für immer: »Der Alchemist« von Paulo Coelho

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3 Antworten zu “Weniger Selbsthilfebücher, mehr Geschichten: Warum ich überzeugt bin, dass uns Romane so viel mehr lehren”

  1. Kann mich den anderen beiden Kommentaren nur anschließen – inmitten der Sachbücher, die ich auch gerne lese, sind Romane immer wie eine Insel der Erholung :)

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