Kolumne: Wie authentisch können wir im Internet sein?

12. Juli 2022 von in

Schon wieder eine neue Social-Media-App. Doch über die sprachen die letzten Wochen alle irgendwie positiver, als normalerweise. Während all die vergangenen Social-Media-Relikte nach Sekunde 1 Augenrollen ernteten, wird über diese nun positiver, euphorischer, hoffnungsvoller gesprochen. BeReal heißt der Newbie der sozialen Kanäle, der eigentlich so neu gar nicht ist. Seit 2020 gibt es ihn, doch erst seit wenigen Wochen wird er in meinem Kreis genutzt. Das aber nur einmal am Tag. Denn das ist das Konzept der App: Einmal am Tag bekommen die User*innen zu einer wahllosen Uhrzeit gleichzeitig eine Pushnachricht gesendet. Ab diesem Zeitpunkt haben alle zwei Minuten Zeit, ein Foto zu posten, oder um genauer zu sein zwei: Die Handykamera macht dabei erst ein Front- und dann ein Selfiefoto. Anschließend sieht man alle Fotos der Personen, die sich gegenseitig folgen, wie in einem klassischen Feed untereinander aufgereiht. Die Idee dahinter ist, die Personen aufgrund des begrenzten Zeitraums so reale Fotos wie nur möglich machen zu lassen. Und somit eine authentische Social-Media-App zu sein.

Kann BeReal wirklich authentische Momente kreieren?

Ich bin normalerweise die letzte Person, die sich von den News über eine weitere Social-Netzwerkes beeindrucken lässt. Normalerweise lasse ich Trends wie diese an mir vorbeiziehen – ich erinnere mich dunkel an Raya oder Clubhouse, Netzwerke, die ich nie von innen gesehen habe und vermutlich nichts verpasst habe. Verpassen tut man auch auf BeReal nichts, doch tatsächlich hat die Werbung meiner engsten Friends dazu geführt, dass ich sie mir heruntergeladen habe. Ich, die jetzt schon maßlos überfordert ist mit Onlinekommunikation.

Was mir beim Einrichten des Profils besonders gut gefiel, war die einfache Anwendung. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich das ganze Ding kapiert, da es nicht viel zu verstehen gibt. Mein Profil war direkt eingerichtet und meine persönlichen Realmojis erstellt. BeReal macht Spaß, so viel stand für mich direkt fest. Ein paar engste Friends nahm ich in meinen Feed mit auf und wartete nun schon auf meine erste Selfie-Aktion. Irgendwann ploppte dann die Pushbenachrichtigung auf und lustigerweise war ich in diesem Moment mit zwei anderen Freunden im gleichen Raum, die ebenso BeReal verwendeten. Wie aufgekratzte Hühner sprangen wir durch die Wohnung und versuchten, ein Foto zu machen, auf dem alle drei von uns zu sehen waren.

Mein Fazit nach Tag 1: Die App macht echt Spaß. Im Feed reihten sich die Fotos meiner engsten Freunde ein, die ebenso verwackelt und unspektakulär waren, wie unsere. Ohne Konzept oder Anspruch, wie man normalerweise von hochglanzproduzierten Instagramkacheln oder perfekt geschnittenen TikToks gewohnt ist. Wie nette, freundliche Boomer sahen sie alle aus, die die App nicht so recht verstanden und sich einreihten in eine Sammlung unspektakulärer Ereignisse: Bilder von der Arbeit, vor dem Fernseher, beim Essen, im Bett, in der S-Bahn. Selten hat mich ein soziales Netzwerk so wenig getriggert.

Bis dann ein paar Tage vergangen waren und alle immer besser verstanden, wie BeReal funktionierte. Ein paar Personen fingen an, besonders lustige Slogans zu fotografieren, einen originellen Fotowinkel aus dem Ärmel zu schütteln, oder ihre Highlights des Tages ein paar Stunden später als ‚Late‘ zu posten. Plötzlich war er dahin, der freundliche Ort, an dem alle gleich uncool waren. Und das innere Wettbewerbsgefühl – mal wieder – getriggert. Die ersten Freundinnen bekannten sich nach kürzester Zeit als Skeptikerinnen der App und löschten sie wieder. Andere stellten ihre Benachrichtigungen aus, damit sie nicht mehr täglich daran erinnert werden, ein Foto zu machen. Und auch ich bin weniger dort zu sehen.

Authentisch sein im Internet – geht das überhaupt?

Wieso können wir alle nicht authentisch sein? Oder besser noch: Wieso kann ich nicht authentisch sein? Das sind die Fragen, die mir in den Sinn kommen, wenn ich über BeReal nachdenke. Eine App, die reale, echte Momente einfangen soll, entwickelt sich innerhalb weniger Tage von einem naiven und freundlichen Raum zu einer gut kuratierten Best-Of-Fotografie. Nicht bei allen und nicht ständig, doch die Entwicklung ist dennoch deutlich spürbar. Auch bei mir selbst.

Ist es überhaupt möglich, in einer Social-Media-App authentisch zu sein? Oder spricht das gegen die gesamte Natur eines sozialen Netzwerks? Vorsicht, jetzt wird’s gleich philosophisch: Bin ich authentisch, wenn ich mich originell, schlau, lustig oder vorteilhaft fotografiere, also darstelle? Oder bin ich immer irgendeine Version von mir?

Die Fragestellung um Authentizität wird schon seit Jahrzehnten auf unterschiedliche Arten beantwortet. Was ist Selbstbestimmung, was Fremdbestimmung, was ist Identität und das wahre Selbst? Natürlich soll eine App wie BeReal diese Fragen nicht beantworten, doch sie bewirkt in mir, sie überhaupt mal aufzuwerfen. Und ehrlich gesagt setzt sie mich ganz schön unter Druck. Der Begriff Authentizität ist nämlich mit ganz schön viel Forderungen aufgeladen:

Was ist Authentizität überhaupt genau?

Wer authentisch sein will, muss herausfinden, wer man ist, was man will, sich selbst akzeptieren und bereit sein, diese Version nach außen hin zu zeigen. Dabei muss einem egal sein, was andere von einem halten, da man ja authentisch man selbst ist und diese rohe, ungeschliffene Version von sich zu mögen hat. Beispielsweise die verschlafene und zerzauste Person im Bett, die durchfeierte Partymaus auf der Afterhour oder die faule Couchpotato am Freitagabend. Da ist gar kein Platz für Unsicherheiten, denn wer authentisch ist, steht schließlich zu sich, und das, in jedem Moment. In den Highlights sowie in den Lowlights.

Sei einfach du selbst. Das klingt so einfach, ist aber ganz schön schwierig, wenn man anfängt, darüber nachzudenken. Genau das finde ich so spannend auf BeReal zu beobachten. Die App ist für mich gerade eine Sozialstudie darüber, was für andere Authentizität bedeutet. Manche zeigen sich nach wie vor in verwackelten Momentaufnahmen, andere in originellen oder lustigen Momenten, weitere in ästhetisch kuratiertem Umfeld, beispielsweise einem hübschen Farbkonzept. Das ist verdammt spannend, denn Instagram hat sich schon lange von der Idee verabschiedet, authentisch sein zu wollen. Dort gehört es zum guten Ton, sich in der besten Version seiner selbst zu zeigen. Doch wie sich Menschen präsentieren, die authentisch sein wollen, das sieht man gerade sehr gut auf BeReal. Die Resultate und demnach die persönliche Auffassung der philosophischen Fragestellung könnten unterschiedlicher nicht sein.

Ich denke, die Antwort liegt irgendwo dazwischen. Sich wirklich echt und authentisch auf nur einer Social-Media-App zu zeigen, ist wahrscheinlich unmöglich. Dafür sind Menschen zu komplex. Und das müssen sie auch überhaupt nicht. Denn der Anspruch an Authentizität ist ganz schön hoch, sodass er für viele vielleicht gar nicht zu erreichen ist. In einer Zeit, in der man konstant bewertet wird, sich nicht von Bewertungen beeindrucken zu lassen, ist schwer. Deshalb ist es in meinen Augen vollkommen okay, wenn man im Internet nicht die authentischste Version von sich selbst ist. Die kann man vielleicht besser dann sein, wenn das Handy aus ist. Man gemeinsam mit den Menschen, die einem wirklich nahe stehen, Zeit verbringt und einen Raum schafft, der so frei wie möglich von Bewertung ist. Ohne Likes, ohne Follower und ohne Trends. Sondern einfach nur Menschen, die es genießen, beieinander zu sein. Und das reicht vollkommen aus.

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