Das Leben ist eine einzige Ü30-Party oder: Wie ich lernte, die Couch zu lieben

1. Juli 2020 von in

Dieser Text von Lisa Ludwig erschien zuerst auf Vogue.de

18

Ich bin 18 und spektakulär daran gescheitert, die Überreste meiner Pubertäts-Akne mit 5-Euro-Foundation zu überschminken. Trotzdem starre ich mit zusammengekniffenen Augen an den Eingangskontrollen vorbei in einen überfüllten Club, als würde ich der schwitzenden Masse dahinter eine Audienz gewähren. Entfernte Bekannte haben mich nach einem unterdurchschnittlich unterhaltsamen Bar-Abend auf eine Ü30-Party mitgeschleppt. Für sie ist es „Höhöhö, Resteficken!“, denn sie sind misogyne Arschlöcher. Für mich ist es eine dystopische Zukunftsvision à la „Hunger Games“ oder „The Walking Dead“.

Ü30-Party. Das klingt nicht nach Menschen, die schon was erreicht hatten und trotzdem noch Spaß haben wollten. 30 ist schließlich diese apokalyptische Schwelle, hinter der alles anders wird. Trauriger, verzweifelter, krähenfüßiger. Das ist natürlich wahnsinnig dumm – weiß ich heute. Damals dachte ich nur: Bitte lass mich niemals zu den „Resten“ einer Ü30-Party gehören.

21

Ich bin 21, tanze wie ein richtiger Volltrottel und habe gerade meine letzten 2,50 Euro für Bier ausgegeben. Der Club ist klein, Kondenswasser tropft von der Decke, als würde der Raum selbst schwitzen, und der Typ hinter mir drückt mir seinen Rucksack bei jeder Bewegung in den Rücken. Aber das ist alles egal, denn „Good Ol‘ Love“ von Masta Ace läuft: Ain’t nothin‘ like hip hop music, that’s why we choose it and the world just can’t refuse it. „Ich liebe Hip-Hop so sehr“, brüllt mir eine Freundin zu. Ich nicke ergriffen und nehme einen Schluck aus meiner Bierflasche. Wir bleiben, bis es draußen hell wird.

Feiern und Spaß haben, das ist was für junge Menschen. Menschen wie mich, die sich zwar schon lange selbst finanzieren müssen, im Zweifelsfall aber trotzdem noch restbetrunken und nach zwei Stunden Schlaf in der Uni aufschlagen können. Ich fühle mich nicht halb so selbstbewusst, wie ich wirke, wenn ich mit Bekannten im Arm grölend durch den Club torkle. Aber mit 20 muss man dumm und unverantwortlich sein, das weiß ich aus Filmen. Also performe ich.

25

Ich bin 25 und ich schwitze. Oder irgendjemand hat mich beim Vorbeidrängeln mit seinem Drink bekippt. Egal. Mein Herz rast nach der vierten Wodka Mate. Die Flasche an der Bar gibt’s für 3 Euro, den Schnaps haben wir in Flachmännern in unseren BHs in den Club geschmuggelt. Wir sind jung, wir sind durstig, und wir haben kein Geld. Deshalb Gästeliste und Hochprozentiges vom Discounter. Plötzlich ist da ein Shot in meiner Hand. Jägermeister war noch nie eine gute Idee, aber so jung kommen wir nicht mehr zusammen und irgendjemand hat immer Geburtstag. Ein Typ stellt mir eine Frage zu meinen Brüsten und ich halte es für ein Kompliment. Kippe mein Desinteresse auf Ex runter. Besser der als keiner. Ich bin jung, ich bin hungrig und ich beiße so viel vom Leben ab, wie ich erwischen kann. Die Zähne fallen mir früh genug aus.

28

Ich bin 28 und stehe vor dem zugetaggten Spiegel einer Clubtoilette. Wir sind schon so lange in diesem Club, dass die Musik sich anfühlt wie ein Tinnitus. Aber wir haben zum ersten Mal seit Ewigkeiten Eintritt bezahlt, und diese Investition muss sich lohnen. Mein verschmierter Lidstrich legt sich wie tiefgraue Gewitterwolken passiv-aggressiv in meine Augenfältchen. Ich sehe so durch aus, wie ich mich am nächsten Tag fühlen werde. Früher wäre mir das peinlich gewesen, heute spielt das keine Rolle mehr.

Ich bin unsichtbar zwischen Frauen Anfang 20, die sich die Performance ihres Lebens dabei liefern, so zu tun, als wären sie nicht schon viel zu besoffen, um sich sexy zu bewegen. Ich fixiere eine Freundin, kneife ein Auge zusammen, um sicherzugehen, dass ich sie nicht doppelt sehe, und sage: Ich muss nach Hause. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob feiern gehen wirklich so viel Spaß macht. An diesem Abend fühlt es sich wie Arbeit an. Werde ich langsam zu alt für die Scheiße?

31

Ich bin 31 und sitze bei einer Freundin auf dem Balkon. Wir trinken Wein für 10 Euro die Flasche aus richtigen Weingläsern und sprechen über obskure Arthouse-Filme und neue Kunstausstellungen. Um 22 Uhr fahre ich nach Hause und widme mich meiner klassischen Ü30-Abendplanung – Netflix. Party-Burnout oder: wie ich lernte, die Couch zu lieben.

In meinem aktuellen Lieblingsformat verkauft eine Kartellchefin Kokain an Menschenhändler und Profilneurotiker. Wenn nicht gerade jemand auf sie schießt, hängt sie mit wertigem Alkohol in aufregenden Clubs rum oder küsst hotte Dudes mit Halstattoos. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so richtig feiern war. Ich weiß nur: Wenn nicht bald etwas Aufregendes in meinem Leben passiert, platze ich.

Ich will nicht mit 20-Jährigen zu der Musik feiern, zu der man aktuell so weggeht. Das würde mir nur wieder vor Augen führen, dass ich keine Energie mehr für „Modus Mio“-Playlists und das fünfte Revival von Crop-Tops habe. Nein, ich will ungelenk zu Wu-Tang Clan und D.I.T.C. herumschunkeln, ohne mitleidige Blicke von angehenden Instagram-Models zu ernten. Ich will neben Leuten an der Bar stehen, bei denen sich der Highlighter ebenfalls in den ersten Augenfältchen sammelt, und die niemals auf die Idee kommen würden, mehr als zwei Shots zu trinken, weil sie ganz genau wissen, dass sie den folgenden Kater nicht überleben würden. Ich will tanzen und tanzen und tanzen und vergessen, welches Jahr es ist, in welcher Zeit wir leben, dass es nur noch ein Steinchen auf der falschen Waagschale braucht und alles zusammenbricht. Ich will das Gefühl haben, jung und sorglos zu sein, ohne jung sein zu müssen. Ich … will auf eine Ü30-Party.

Die Erkenntnis trifft mich wie die tätowierte Faust eines Kartell-Schlägers. Wie im Zeitraffer spule ich die letzten Jahre meines Lebens ab. Komplexe wegen meines Aussehens, Zukunftsängste, Warten auf den Nachtbus, weil der unterbezahlte Studentenjob keine Taxifahrt erlaubt, und Aufwachen neben Menschen, von denen ich mir schon wünsche, dass sie verschwinden, bevor sie gekommen sind. Die Zwanziger sind die beste Zeit deines Lebens, wurde mir von Popkultur und Gesellschaft von klein auf eingetrichtert. Weil man mit 20 aber zu unerfahren, zu komplexbeladen, zu broke ist für alles, was richtig Spaß macht, fühlt es sich oft gar nicht mal so geil an. Auf der verzweifelten Suche nach der geilsten Zeit meines Lebens habe ich mich in die komplette Lustlosigkeit gefeiert.

In Gedanken stehe ich wieder vor der Einlasskontrolle der schrammeligen Disko. Doch dieses Mal bin ich 31. Ich weiß, was ich mag und was nicht und mit welchem Make-up meine Haut nicht aussieht, als hätte mich Jesus nur mäßig motiviert von Lepra geheilt. Vor allem aber performe ich nicht mehr für andere, ich muss weder ihnen noch mir irgendetwas beweisen. Mein Song kommt, und ich tanze und ich tanze und ich tanze, bis mir meine ersten grauen Haare schweißnass an der Schläfe kleben. An der Bar bestelle ich Wein, von dem man keine Kopfschmerzen kriegt, und beobachte mein 18-jähriges Selbst. Angespannt, unsicher und auf der verzweifelten Mission, von irgendwelchen Arschlöchern gemocht zu werden. Schade, denke ich. Wenn ich doch nur damals schon gewusst hätte, dass das Leben eine einzige Ü30-Party ist.

Foto: Anna Shvets via Pexels

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