Das München-Klischee: Vom Stigma geprägt
Wer sich in den Mitt- bis Endzwanzigern seines Lebens befindet, wird früher oder später mit einem Thema konfrontiert, zu dem er Stellung beziehen muss. Die Polyamorie zum Beispiel ist ein beliebtes Diskussionsthema, auch wenn die meisten in meinem Umfeld nicht mehr so viel darüber reden, da sie sich in der Vergangenheit so ausgiebig darüber den Kopf zerbrachen, debattierten, ja sogar Bücher darüber schrieben, dass sie irgendwann das Interesse daran verloren. Zu den Menschen zähle ich mich übrigens auch, umso überraschender war es, als ich neulich gefragt wurde, ob ich denn auch in einer offenen Beziehung lebe, als uns gerade die Eggs Benedicts und eine Hummusplatte serviert wurden. Nein, entgegnete ich, ich lebe aktuell monogam. Mein Gegenüber nickte und presste ein Geräusch heraus, das Verständnis heucheln sollte, doch wirklich war es eine Verurteilung im Schafspelz. Er antwortete: „Klar. Das ist, weil du aus München bist.“, was – für diejenigen unter euch, die nicht aus München sind und deshalb vielleicht nicht wissen, wie sich das anfühlt – etwas Schlechtes bedeutet und womit wir MünchnerInnen regelmäßig zu kämpfen haben.
Wir sind von dem Stigma der konservativen Einfältigkeit und des Spießertums geprägt und das verfolgt uns unser Leben lang. Wer in München groß geworden ist, muss anderswo mit angestrengten Reaktionen rechnen: „Ah, soll ja schön da sein!“, gepaart mit ein paar Schlagworten, die ihnen zu dem Begriff München einfallen – Oktoberfest, Bier, Berge, Isar – mit denen sie versuchen, eine Art Sympathie zu München zu simulieren, die in den meisten Fällen auffallend schlecht ist. Selbstverständlich gibt es auch die echten München-VerfechterInnen, die zwar hier in Berlin und in meiner Blase, in der ich mich bewege, in der Minderheit sind und die in der Regel ebenso wie ich aus München kommen, aber es gibt sie zweifellos. Doch da muss man schon ehrlich zu sich selbst sein und sich eingestehen, dass München ganz schön unbeliebt ist in Deutschland und das nicht nur wegen seines Polizeiaufgabengesetzes. Die bayerische Hauptstadt war auch davor schon unbeliebt, zum Beispiel wegen der CSU oder der Longchamp-Taschen.
Wer aus München kommt, muss kontinuierlich beweisen, dass er nicht seinem Klischee entspricht. Denn kein Mensch mag es, einem Klischee zu entsprechen. Da muss man als Münchner, zum Beispiel aus der Kunst- und Kreativszene, ganz klar zusammen halten und da überrascht es mich auch nicht, dass jene Szene leicht reizbar ist (mich eingeschlossen), wenn sie wieder diesem allwissenden Nicken beim Aussprechen ihrer Herkunft unterworfen ist: „Ah, deshalb bist du so!“, als hätte man uns verstanden, nur weil wir aus München wären. Wenn ich aber sympathisch herüberkomme und ein positives Bild abgebe, ist auch das Gegenteil eine beliebte Reaktion: „Wow! Das sieht man dir aber gar nicht an.“, oder „Krass, du sprichst ja gar kein bayerisch.“, oder „Du bist doch aber links?“, in solchen Momenten frage ich mich schon, was die Leute so von MüncherInnen denken. Als würden wir den ganzen Tag in Tracht zu Volksmusik schunkeln, Weißwürste essen und ‚oana geht no nei!‘, grölen, da draußen in unserem Millionendorf, zu dem jede Person eine Meinung hat. Selbst die, die noch nie da waren.
München polarisiert in beide Richtungen und Schuld daran ist unter anderem seine Ungreifbarkeit. Der Mensch an sich sortiert gerne in Schubladen und so konservativ, traditionell und langweilig für viele die bayerische Stadt daher kommen mag, so schwer ist es, sie zu verstehen. Wer durch das Glockenbachviertel flaniert, an der Isar ein Augustiner trinkt, sich die cremige Burrata im Ambar Bistro in Untergiesing auf der Zunge zergehen lässt, ein Theaterstück in den Münchner Kammerspielen besucht, sonntags in die Pinakothek der Moderne für einen Euro geht, oder sich während des alljährlichen DOK.fests Dokumentationsfilme in der HFF ansieht, versteht schnell, dass die Stadt einen ungewöhnlichen Charme versprüht.
Viele MünchnerInnen sagen über sich selbst, sie fühlen sich der Mentalität nach zu urteilen Österreich zugeneigter und nicht ohne Grund bezeichnet man München als die nördlichste Stadt Italiens. Mit dem Bayern-Ticket fährt man in 45 Minuten (*Stoiber Voice*) an einem Sonntagmittag nach Salzburg, um einen Kaffee zu trinken, oder verbringt spontan ein ganzes Wochenende zum Wandern in Südtirol oder am Gardasee. Nach außen tritt ein wahres Bild von München zum Vorschein, das aber durch das Oktoberfest und seine wohlhabenden Spießer in Leichtdaune und Longchamp-Tasche so überzeichnet wird, dass die Stadt selbst in all ihren Facetten – ihrer linken Szene, ihren aufstrebenden Künstler und Künstlerinnen, ihren Museen und Theatern, ihrer Filmhochschule und Kollektive – nach außen überhaupt nicht zur Geltung kommt. Während andere Städte nur Städte sind, ist München ‚München‘ – und da schwingt immer eine Wertung mit.
„München polarisiert in beide Richtungen und Schuld daran ist unter anderem seine Ungreifbarkeit.“
Was wir hochdeutsch sprechenden, vegetarisch oder vegan lebenden Exil-MünchnerInnen in Berlin tatsächlich machen, ist uns mit einem herzlichen ‚Servus‘ in die Arme zu fallen. Als Zeichen von Solidarität, Mitgefühl, Verständnis: Wir lieben München für die richtigen Gründe, wir hassen München für die richtigen Gründe, doch vor allem kennen wir das Gefühl, von anderen Menschen wegen München eingeordnet zu werden.
Diesen Text schreibe ich an einem grauen Sonntag um 9 Uhr morgens, während ich gelegentlich aus meinem Küchenfester auf die schlafenden Straßen Neuköllns blicke. Nur leise hallt er nach, der allwissende Satz, der meint, mich durchschaut zu haben: „Ahhh, natürlich. Die Frühaufsteherin aus München.“
10 Antworten zu “Das München-Klischee: Vom Stigma geprägt”
Ganz ehrlich: Ich kann mir etwas Schlimmeres vorstellen, als aus München zu kommen und mit entsprechenden Klischees konfrontiert zu werden.
„Während andere Städte nur Städte sind, ist München ‚München‘ – und da schwingt immer eine Wertung mit.“ Das stimmt so nicht. Das ist doch bei jeder Stadt so. Berlin: „Aha, Hipster.“ Köln: „Alaaf!“ Hamburg: „Perlenkette.“ oder halt „Aaaa, Reeperbahn.“ Stuttgart: „Spießiger Schwabe. Kehrwoche.“ Dresden: „Schön, aber ganz schön viele Nazis, oder?“ Ich wohne derzeit in Essen. Wenn man außerhalb des Ruhrgebiets auf Menschen trifft, die dort nicht wohnen, sind sie immer sehr überrascht, dass man kein fußballbegeisterter, zahnloser Asi ist. #FirstWorldProblems
Hey Jule, die Klischees sind sicherlich überall, aber gerade wenn ich sage, dass ich in Berlin wohne bekomme ich deutlich (!!!!) positivere Rückmeldungen. Wenn du dich ähnlich verurteilt fühlst, weil du in Essen wohnst, dann kannst du den Text ja im weitesten Sinne nachfühlen. Natürlich sind das First World Problems, aber heißt das, dass man deshalb nicht über Themen schreiben darf, oder? Verstehe nicht ganz, wieso du dich angegriffen fühlst. Liebe Grüße!
Danke für den Text! Ist bei uns in der Schweiz genauso :-) und natürlich auch, sobald man im Ausland unterwegs ist – Ah, aus der Schweiz, sicher im Finanzsektor tätig, hält sich überall raus, schwimmt im Geld, isst nur Schokolade usw… (das letzte stimmt;-)). Aber meistens wird man sowieso mit Schweden verwechselt ;-)
Etwas anderes – Habt ihr drei Tipps für mich tolle „München-Tipps“ für das Wochenende vom 15.-17. November?
Polyamorie. Ganz ganz sicher meinst du Polyamorie.
Danke, ändere ich!
Hmmm, klar gibt es Klischees. Aber die gibt es zu absolut jeder Stadt. Genau so wie jede Stadt verschiedene Gavwtten hat. Ein besonders negative Reaktion/Haltung von Nichtmünchnern zu mir als Münchnerin, hab ich ehrlich gesagt noch nie erlebt. Vielleicht ist das ja eher ein Berlinphänomen???
Ich möchte eigentlich nur sagen, wie dumm und einfältig sich die fragende Person aus der Eggs Benedict-Situation anhört. Wie spießig muss man denn sein, um jemanden zu verurteilen, weil er einen anderen Beziehungs- oder Lebensentwurf hat als man selbst? Das ist doch die Definition von Spießertum. Und jemanden eine Eigenschaft nur aufgrund seiner Herkunft zuzuschreiben ist auf keine geistige Meisterleistung.
Ich wurde weniger verurteilt für meinen Lebensentwurf selbst, sondern für meine Sicht der Dinge. Was mich gestört hat, war der Münchenbezug. Die Person ist schlau und reflektiert, aber ich hab angefangen mich zu fragen, wieso mich diese Münchenherleitungen so stören, die vor ihm schon x-mal passiert sind in einem ähnlichen Kontext :).
schöner Text, gut geschrieben! Meine Beobachtungen sind deinen sehr ähnlich ( komme allerdings nicht aus München)
Hey Amelie,
ich kann das total nachvollziehen – meine Denke ist teilweise und zugegebenermassen ähnlich, denn ich habe ein paar Jahre unfreiwillig in München gearbeitet und fand das, als damalige Berlinerin, echt schwierig bis grenzwertig – kam überhaupt nicht klar und habe seither viele Menschen kennengelernt, die wissend nicken, wenn ich ihnen davon erzähle.
Ich habe damals gedacht, dass es nur eine Frisur in München gibt, einen Blondton und wirklich jede/r einen Pulli in rosa oder Hellblau über den Schultern trägt – so war für mich das Stadtbild (arbeitete Nähe Maximilianstr)
Das hat sich dann so eingebrannt, dass alles andere schwer vorstellbar wurde.
Ausserdem tragen die Menschen, die öffentlich insbesondere ihren überbordenden Stolz aus Bayern resp. München zu sein, betonen, nicht gerade dazu bei, dass man sie irgendwie ernst nehmen kann oder gar sympathisch findet, beinhaltet das doch in den meisten Fällen eine Abwertung derer, denen sie sich nicht zugehörig fühlen. Dieses wir sind besser als andere, wird in meinen Augen überbetont. Klar, dass einen ebendiese dann unter Level 0 degradieren. Vielleicht um das für sich und den anderen mal klarzustellen ?
Weisst du, wie ich das meine?
LG Ava – Ex-Berlinerin, die nun in Hamburg lebt und keine Perlenkette trägt ;)