Die Gretchenfrage: Zwischen Slow Dating und (dem Ende) der ONS-Culture

11. Januar 2022 von in

„Du weißt doch noch nicht mal, wie ich heiße“, sagt der Typ an meiner Bettkante, der definitiv nicht mehr weiß, wie mein Vorname lautet. Was ich ihm unmissverständlich entgegne, während mir seiner im selben Augenblick einfällt. Ein Triumph, der sich irgendwie falsch anfühlt. Eher ein Zeugnis davon ist, wie egal mir seine Gesellschaft eigentlich ist. Denn ich bin einfach nur ziemlich müde. Die Tür fällt ins Schloss, und ich in mein Bett. Zwei Jahre später bin ich immer noch müde. Von der Pandemie. Der schnelllebigen Dating-Kultur. Dem sich immer wieder vorstellen müssen. Dabei mit den immer gleichen Fragen konfrontiert werden und dieselben Anekdoten zu rezitieren. Eben Dates, die sich nach Déjà-vu’s anfühlen in einer Dauerschleife zu erleben. Die Luft ist raus, und so wie mir geht es auch anderen, die sich genau wie ich lethargisch vom Daten fühlen. Andere, die sich bewusst dazu entscheiden, auszusteigen und einfach mal eine Pause zu machen – in den so viel angenehmer wirkenden Armen der Slow Dating Kultur.

 

 

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Die Dating-Kultur steckt fest, zwischen slow down und speed up

Slow Dating, das beschreibt das Gegenteil von dem, was uns das System, in dem wir leben beigebracht hat: es bewusst langsam angehen lassen und sich Zeit nehmen. Weniger ist mehr. Es geht um Qualität, nicht Quantität und niemand muss am schnellsten am Ziel sein. Eigentlich nichts Neues, denn der Trend zu Entschleunigung ist per se bekannt. Bekam durch die Pandemie sogar einen regelrechten Aufschwung. Alle machen Yoga, meditieren und finden sich selbst. In dieser Illusion ist Dating mit Speed besiegt und die Pandemie der Bezwinger. Wir sind achtsamer geworden und legen mehr Wert auf Selfcare. Grundsätze, die auch in Bezug auf Dating eine Rolle spielen (sollten).

Doch die Menschen haben Sehnsüchte und wollen sich vor allem nicht davon abhalten, jemanden kennenzulernen. Verführt von den unendlichen Weiten der Dating-Apps. Die allen, die gelangweilt zu Hause sitzen und auf der Suche nach Ablenkung sind, genau das bieten – eine Möglichkeit der ungezwungenen Zerstreuung. Die kann einem in einer Zeit, in der man selbst nichts erlebt, natürlich hervorragend ein Unbekannt:er geben – desto schneller, desto besser. Also alles nur Humbug mit der Theorie vom Slow Dating? Ich komme nicht umhin mich zu fragen, ob sich unsere Art zu Daten nun verlangsamt hat oder nicht?

 

Ist das Konzept der oberflächlichen Begegnungen überhaupt noch am Puls der Zeit oder nur noch ein Schatten seines früheren Mythos?

Ist es überhaupt noch salonfähig, sich bei Rotwein und Zigaretten über Aiden, Howie, Superboy und Co zu zerlassen?

Oder sollten wir nicht eher bei Kräutertee und Räucherbündeln in uns hineinhorchen und fragen: Was zur Hölle mache ich hier und was genau will ich eigentlich?

 

Der Dating-Mythos: Viele Dates und ein Haufen an unbekannten Nummern

Sex and the City, Gossip Girl und weitere Formate erschaffen eine Illusion von Dating, in der Speed-Dating und das ONS zu einem synonymen Nonplusultra wird. Jeder kann dank ihnen die nächtlichen Codes aus Drinks, langen Blicken, Kaffee bei dir oder mir decodieren – die alle nur der Weg zum Ziel sind. Aber was genau ist dieses Ziel, wenn wir selbst nicht wissen, was wir wollen? Laut der Popkultur ist dieses vermeintliche Ziel immer größer, besser und superlativer als man selbst. Eben dieser eine Endgegner, den man nie kriegt. Mit einem entweder ohne Szenario, in dem die weiblich gelesene Person immer den Kürzeren zieht.

Und das ist also the age of multiple choices? In dem suggeriert wird, dass an jeder Ecke schon der nächste Catch wartet. Bereit, um erswiped zu werden – mit wenigen Klicks zum Ziel und noch weniger, um sich anständig mit der Person auf der anderen Seite des Phones, Screens oder Tisches zu beschäftigen. Viele Dates und einen Haufen an unbekannten Nummern und Namen mit Emojis. Die wahlweise einmal, keinmal oder gleich mehrmals nach Hause bestellt werden. Wie Pizza und dabei ist es egal, ob es regnet oder das Taxi eine Runde durch die halbe Stadt drehen muss. Alles muss jetzt und sofort. Und dann ist der Moment auch schon vorbei. Wozu also der ganze Aufwand?

 

 

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Nichts geht spurlos an uns vorbei – auch wenn nicht immer alles greifbar ist

Der Speed in dieser Art des Dating steht für mich für eine unüberschaubare Schnelllebigkeit, mit Charakteren, die sich kaum greifen lassen. Mit und in denen man sich einen Moment verliert und im nächsten scheint es alles wie ein Traum – eine Fata Morgana. Die sich selten festhalten noch wiederholen lässt. Und obwohl es ein Näherkommen mit bewusst gesetzter Distanz und Grenzen war, macht es etwas mit einem. Das ist nur natürlich, denn jede soziale Interaktion geht nicht spurlos vorbei und verlangt uns etwas ab: ein Bruchstück der Aufmerksamkeit, Zeit und Energie. All das so hoch konzentriert und komplex, dass es süchtig machen kann oder ausbrennt.

Das so beliebte Austauschprinzip oder die Nagellack-Theorie (wie sie bei uns im Freundeskreis heißt), sorgt zwar für ordentlich Schwung in der Bude und unterhaltsame Dating-Anekdoten, aber so wirklich zielführend war es eben auch nie. Meistens mehr Kompensation. Wenn jemand mal wieder zu schnell sein Herz verloren hat. Das Timing an anderer Stelle nicht gestimmt hat und man dringend rotieren muss, um die Kontrolle über etwas zu behalten, was keiner von uns kontrollieren kann. Genau dann heißt dich das Dating-Hamsterrad Willkommen. Das nicht anhält, wenn es einmal angefangen hat, sich zu drehen. So schnell, dass wir uns überschlagen und uns im Schwindel verlieren.

 

Slow Dating ist ein Möglichkeitsraum – bereit für die Matrix?

Daher ist es doch ganz okay, dass der Speed beim Daten passé ist und die Pandemie diesen Bereich des Lebens entschleunigt hat. Denn egal, wie vehement man dieses ungelenk klingende Slow Dating nun von sich weisen möchte, eins ist sicher: Dating, wie wir es mal gekannt haben, gibt es nicht mehr. Diese furchtbar platte Phrase von „die Dinge haben sich verändert“ stimmt eben doch. Weil wir uns auch verändert haben. Sind erwachsener geworden oder haben andere Prioritäten gesetzt. Das passiert manchmal abrupt oder schleichend. Fast so, als wäre aus dem Luftballon der letzten Party still und heimlich der Rest Helium entwichen. Und keiner hat es bemerkt – aber ich bin froh darüber.

Denn wenn etwas verschwindet, dann entsteht Raum, um Neues zu schaffen. Eine Möglichkeit für ein Rebranding, die Dating bitter nötig hat. Weniger gezwungen. Mit mehr Ehrlichkeit und Intension. Vielleicht gibt es dann auch weniger verletzte Gefühle, wenn jeder weiß, wo die Grenzen sind. Von dem, was erwartet werden kann und erwartbar ist. Wo die eigenen (Schmerz-) Grenzen liegen und was die eigene Motivation und Intention ist. Denn entgegen aller (uns eingebläuten) Erwartungen haben wir zwar nicht alle Zeit der Welt, aber eben mehr als genug. Genug, dass es reicht, um mal auszusteigen und anzuhalten.

 

 

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Slow Dating ist eine offene Frage ohne klare Antworten

Ich mache also eine Pause vom schnell mal Leute kennenlernen. Die ich einmal treffe. Ohne Namen zu behalten. Als Allzweckmittel für Langeweile, Einsamkeit oder Herzschmerz. Nenne es Slow Dating, Achtsamkeit oder Selfcare. Darum geht es nicht, sondern mehr um die Frage, was ich mir denn eigentlich davon verspreche. Slow Dating, das ist für mich eine offene Frage ohne klare Antwort. Mehr ein Gefühlszustand, in dem ich Fine mit mir und der gesamten Situation bin. Ehrlich zu mir und anderen und mir vor allem eine Auszeit nehme, wenn ich merke, dass hier irgendetwas nicht stimmt.

Vielleicht heißt das Aufhören und die Handbremse ziehen. Weniger rennen oder gerade das. Ich für meinen Teil träume vom Ankommen. Und für mich bedeutet das konkret, mich mehr mit meinen Emotionen auseinander zu setzten und sie nicht mehr wegschieben. Für später. Wenn es mir besser in den Kram passt. Vielleicht muss ich dafür erst mal mit 180 km/h Vollgas geben – dann Stillstand und langsam wieder Fuß fassen. Denn das Tolle an Geschwindigkeit ist ja auch, sie ist immer relativ subjektiv.

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2 Antworten zu “Die Gretchenfrage: Zwischen Slow Dating und (dem Ende) der ONS-Culture”

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