Erklärungswut: Wieso ein „aber nicht alle“ uns auch immer ein wenig mundtot macht

21. September 2021 von in

Beitrag in deiner Story posten?. Fragt mich mein Handy, bevor ich wenige Sekunden später ein Karussell mit der Überschrift „Things Black people don’t want to hear right now“ mit meinem Netzwerk teile. Sechs Bilder, die Satzfragmente enthalten, die ich so oder ähnlich zu oft gehört oder gelesen habe. Sechs Phrasen, die gut gemeint, aber ohne Triggerwarnungen vervielfältigt werden. Sechs Feststellungen, die eine konstante Erinnerung daran sind, wie machtlos wir in asynchronen Machtdynamiken sind. Und obwohl die Überschrift für sich selbst spricht, flattern genau diese sechs Phrasen in meinen Posteingang und fordern (direkt oder indirekt) nach einer Stellungnahme.

 

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Das Spiel wiederholt sich: Juni 2021, Fußball-Europameisterschaft, und Rassismus im Sport keine Seltenheit. Von Fans, in Teams und auch im Internet. Ich habe keine Ahnung von Fußball, aber von Rassismus. Eine Korrelation, die spätestens nach dem Kniefall von Colin Kaepernick 2016 auch im Mainstream angekommen sein sollte. Noch mal besonders Relevanz bekam, als England den Titel verlor und Fans für die Niederlage einen Schuldigen suchten – in diesem Fall bei drei der schwarzen Spieler. „Glaubst du echt, dass das so ist? Na ja, also ich habe ja gelesen, dass… und überhaupt…“ ist eine der Sorte Nachrichten, die in meinen Posteingang flattert, nachdem ich zu dem Thema einen Info-Post geteilt habe. Mit von der Partie die Forderung nach einem Statement von mir und der Hinweis, dass nicht alle Fans solche Tendenzen aufweisen.

Eine Frage der Selbstreflexion: Gut gemeint ist nicht immer durchdacht

Natürlich sind die „aber nicht alle“-Kommentare nicht böse gemeint und all die Nachrichten die Folge von Interesse an meinem Post, der die Sichtweise von PoC teilt – trotzdem machen mich die Nachrichten sauer und ich schreie in den Screen. Nicht wirklich, aber innerlich. Da schreie ich so laut, dass ich zwei Sekunden später, als die Ruhe selbst in einen Dialog treten kann, den ich eigentlich nicht wollte. Ich bin genervt von einer Erwartungshaltung, der ich nicht entsprechen möchte. Und das alles, weil ich einen Beitrag in meiner Instagram-Story geteilt habe. So what, dachte ich und befinde mich wenig später in der irrwitzigen Position, mich rechtfertigen zu müssen.

Das fühlt sich an, wie wieder zwölf sein und seinen Eltern zu erklären, wieso genau man diese supercoole Brille haben möchte, die im Schwarzlicht leuchtet. Und dabei trägt man weder eine, noch ist man alt genug, um damit irgendwohin zu gehen, wo es Schwarzlicht gibt – eine klassische Diskussion, die man nicht gewinnen kann. Denn egal, was du sagst, sie schmettern jedes Argument ab. Sind die besseren Spieler und wissen, wie sie all deine Logiken für nichtig erklären.

Das war damals und meine Eltern klar im Vorteil, im Gegensatz zu heute: Denn die Stimmen meiner DM-Kontrahenten wissen nämlich genauso viel wie ich. Vielleicht auch weniger. Denn in neun von zehn Fällen teile ich Dinge in meinen Storys, die mich interessieren und mit denen ich mich tatsächlich beschäftigt habe.

Im Internet hat jeder eine Meinung und alle wollen sie dir absprechen

Das Tolle am Internet und der dort herrschenden Meinungskulturen: jed:er hat etwas zu sagen und schreit das auch in den Orbit. Und wie im echten Leben kann man auch hier davon ausgehen, dass Hunde, die bellen, nicht beißen – aber sie richten Schaden an und verunsichern mit ihrer Bedrohlichkeit. Besonders wenn es darum geht, anderen ins Wort zu fallen und Positionen zu reproduzieren, die letztendlich alle auf dem Prinzip der eigenen Meinung oder Hörensagen basieren. Das Problem mit Meinungen per se ist, sie sind sehr subjektiv – oft persönlich und emotional aufgeladen. Und je nachdem, wen man damit willentlich oder nicht angreift oder auf ein Podest stellt: Es gibt immer einen anderen, der sie dir absprechen, entschärfen oder irgendetwas anderes will. In dem Fall von meinen DM-Gegnern, wie ich sie mit liebevoller Schärfe nennen würde, denn mit einigen von ihnen sympathisiere ich auch IRL, ist dieses Aber gar nicht böse gemeint. Oft einfach nur das Interesse an meiner Meinung – und trotzdem finde ich es nicht okay!

 

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Ein Beitrag geteilt von Malcolm Ụzọma Ohanwe (@malcolmohanwe)

Ich möchte meine Position nicht erklären müssen. Egal, wie interessiert du bist. Ich möchte deine Meinung nicht dazu hören, denn ich habe nicht danach gefragt. Wenn du mehr wissen willst, lies den Post, frag eine der meistverwendeten Suchmaschinen – Educate yourself! Denn am allerwenigsten möchte ich in meiner Position relativiert werden. Mit einem: „Aber das kannst du ja jetzt nicht so sagen…!“, „Also das habe ich jetzt noch nicht so gelesen“ und vor allem der beliebten Phrase „#notall …“. Doch schon möchte ich dann am liebsten entgegnen. Den fast schon lebendig gewordenen Endgegenern. Denn diese alle können allesamt die Dinge nicht einfach annehmen und stehen lassen, sondern verlangen konstant nach Beweisen, Fakten und am besten einer ganzen Liste an Befürworter:innen. Leute, die sie von etwas überzeugen sollen, von dem sie gar nicht überzeugt werden wollen. Natürlich #notall, aber genug.

Recht oder unrecht, das ist hier nicht die Frage!

Unternehmen wir also an dieser Stelle einen kleinen Exkurs in die deutsche Sprache und ihre Eigenheiten. Das Großartige an ihren verschiedenen Bedeutungen und Nuancen ist, dass jedes Wort subjektiv wahrgenommen wird. Im Klartext gibt es für ein und dieselbe Sache zig Arten des Beschreibens. Die, je nachdem, wie sehr man sich darauf einlässt, einen enormen Möglichkeitsspielraum erlauben, wenn es um Kontextualisierung oder Bedeutungsebenen geht. Das ist zugleich faszinierend, wie nervenaufreibend, wenn bestimmte Bausteine bei jedem anders ankommen.

Was jedoch immer gleich ankommt, ist ein Aber. Denn diese Silbe hat immer eine Folge. Die in Form einer Erklärung, Rechtfertigung oder Relativierung erfolgt. Die jedes Statement und Ausrufezeichen immer auch ein wenig zittern lässt. Ein Aber verhaspelt sich so oft, bis es sich selbst nicht mehr sicher ist. Sich selbst verunsichert und am Ende mundtot macht. Es ist 12 und die Erwachsenen verstehen es nicht. Die meisten waren schon mal dieses Aber. Nachdem die eigene Meinung, Ansicht und Haltung mit einem „Aber du hast Unrecht“ infrage gestellt wurde. Dabei geht es um so viel mehr, als um Recht oder Unrecht zu haben. Faktisch kann man das Recht auch gar nicht besitzen, sondern sich nur auf die Denkweise des anderen einlassen und so seinen eigenen Horizont erweitern. Schlussendlich sagen: „Stimmt, das ergibt Sinn“. Oder bei sich bleiben und sagen: „Wir finden hier keinen Konsens, also einigen wir uns darauf, dass wir uns nicht einig sind“. Geben uns die Hand und gehen im Reinen aus der Situation. Natürlich gibt es auch Ausnahmen.

#Notall ist der Superlativ der Relativierungen und eine ernst zu nehmende Form von Gashlighting

Zurück zu meinen Nachrichten und dem Versuch, mich dort erklären zu müssen. Wieso reicht es einigen nicht, eine einfache Aussage hinzunehmen? Wieso müssen Meinungen immer mit einem Literaturverzeichnis und einem Haufen Statistiken versehen werden, bevor sie als wertig und unumstößlich angesehen werden?

Das ist meine Wahrheit und die braucht keine Daten, sondern ist empirisch und vor allem persönlich. Der Versuch, diese Erfahrungen ständig zu relativieren, mit einem Aber und #notall spricht allen anderen, die Teil dieser Wahrheit sind, ihre Erfahrungen, ihren Schmerz und ihre Perspektive ab. Man beginnt an sich selbst und seiner Position zu zweifeln und auf einmal demontiert nicht nur ein anderer die eigene Wahrnehmung, sondern man wird zum Komplizen einer sehr subtilen, aber dennoch wirkungsvolle Taktik. Was diese Art von (digitalem) Gashlighting besonders in unserer heutigen Zeit zu einem gefährlichen Instrument macht.

 

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Erklärungswut oder das Problem mit #notall

#Notall blockiert und verhindert eine Auseinandersetzung, in der sich Leute mit Themen außerhalb des eigenen Kosmos beschäftigen. #Notall verharmlost strukturelle Ungleichheiten und normalisiert es, dass marginalisierte Gruppen immer wieder mit denselben Hindernissen konfrontiert werden und sich fast schon aktivistisch für die eigenen Lebensrealitäten rechtfertigen müssen. Du hast Fragen? Dann bilde dich weiter. So lässt es sich nämlich viel besser in ein Gespräch gehen, dessen Ziel nicht zwangsläufig „Gewinnen oder Verlieren“ heißt. Sondern der Weg zu einem gemeinschaftlichen Selbstverständnis ist, bei dem jed:er der Sieger sein kann. Es geht um Erkenntnis, Anerkennung und Raum geben für Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen – etwas worauf sich jed:er bewusst einlassen muss. Auch ich.

Denn wenn ich Themen auf Social Media bespreche und Inhalte teile, dann möchte ich einen Denkanstoß geben. Perspektiven zeigen. Nicht in den Zugzwang geraten, mich erklären müssen. Und schon gar nicht jemandem dabei helfen, seine eigene Meinung zu untermauern und meine währenddessen abzubauen. Daher versuche ich trotz meines inneren Augenrollens und dem schnippischen educate yourself in meinem Kopf den Diskurs am Laufen zu halten. Antworten zu geben, die ich eigentlich nicht geben möchte. Bin die Klügere, die nachgibt – denn im besten Fall treffen die Bemühungen auf fruchtbaren Boden und führen zur Reflexion auf der anderen Seite der Nachrichtenbubble.

Bildcredits: Unsplash

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2 Antworten zu “Erklärungswut: Wieso ein „aber nicht alle“ uns auch immer ein wenig mundtot macht”

  1. Sehr guter Text!!! Grade gestern befand ich mich in einer ähnlichen Situation, in der etwas in einer Reportage gesagte von meinem Freund kommentiert wurde mit „Aber doch nicht alle…“. Ich fand darauf keine guten Argumente, um dagegenzuhalten. Erst später wurde mir klar, was mich an seiner Reaktion so störte: die Relativierung des geäußerten Problems, das ein echtes ist. Nachdem mir das klar wurde, konnten wir nochmal darüber sprechen und ich besser erklären, was mich an solchen Kommentaren stört. Es bleibt ein Lernprozess…

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