Der gottverdammte Hof in Brandenburg. Hätte ich für jedes Mal, wenn Menschen in meiner Peer Group von ihm phantasieren, einen Euro bekommen, dann könnte ich mir vielleicht jetzt schon ein ganzes Dorf in Sachsen leisten. Wenn es darum geht, wie man in zehn, zwanzig Jahren leben möchte, dann sind sich irgendwie alle einig: Auf jeden Fall irgendwie raus aus aufs Land, aber bloß nicht allein! Die Sehnsucht nach Mehrsamkeit ist groß in unserer Generation.
Die unabwendbare Isolation
Und das ist irgendwie auch kein Wunder, denn nie zuvor haben so viele Mitte-Ende-Zwanziger so beengt an lauten und hektischen Orten gelebt wie heute. Wir alle sitzen, meist allein, in unseren überteuerten Innenstadtwohnungen, starren auf Bildschirme und träumen von Abgeschiedenheit, Ruhe und Solidarität – irgendwann, wenn man endgültig genug hat von Flat Whites für 4 Euro, langen Clubschlangen und öffentlichem Nahverkehr. Und obwohl wir in der großen Freiheit leben, in der wir unsere Leben auf jedmögliche Art selbst gestalten könnten, hört die Kreativität in puncto Mehrsamkeit oft bei dem Konzept „WG“ auf. Und das erschöpft sich – durchs beengte Zusammenwohnen mit random Menschen, mit denen man nicht richtig kompatibel ist – meist ab einem gewissen Alter. Dann landet man entweder in der Ein-Zimmer-Wohnung oder in einer Pärchenkonstellation, die dann klammheimlich auf die klassische Kleinfamilie zusteuert, in der man auf ganz neue Arten von der Außenwelt isoliert ist. Dabei wäre es doch viel sinnvoller, sich gegenseitig zu unterstützen – egal, ob man sich in einer Familienkonstellation befindet oder nicht. Das würde auch eine Menge Druck aus der Partnersuche nehmen – denn man müsste keine Angst mehr vor der Einsamkeit haben, auch wenn man keine romantische Beziehung eingeht.
Konzepte, die sich mit gemeinschaftlichem Wohnen und Leben befassen, gibt es viele. Umgesetzt werden sie meist nur von einigen wenigen, die dann für ihren Mut bewundert und beneidet werden. Dabei träumen wir doch eigentlich alle davon, unsere zukünftigen Kinder nicht nur gemeinsam mit unseren Partner*innen großzuziehen, sondern auch mit Freund*innen, Nachbar*innen und deren Nachwuchs. Wir alle träumen doch eigentlich von mehr Raum, mehr Ruhe und mehr nachbarschaftlicher Solidarität.
Mehr Raum, weniger Hustle, mehr Zerstreuung, weniger Stress
Im Hof in Brandenburg manifestiert sich ein menschliches Grundbedürfnis, das die Realität in der Großstadt nur selten zu befriedigen weiß. Es ist das warme Gefühl, das wir verspüren, wenn uns die Oma aus dem zweiten Stock einfach so Weihnachtsplätzchen vorbeibringt. Das Zwicken im Bauch, wenn wir mit Freund*innen am Esstisch sitzen und uns fragen, wieso wir uns nicht öfter so aufgehoben fühlen können. Es ist der immer gleiche Smalltalk mit dem Mann im Kiosk um die Ecke – muss ja, man lebt, man lebt. Eben das Gefühl, an einen Ort zu gehören, an dem Menschen gegenseitig aufeinander aufpassen. Und es ist auch der Wunsch nach mehr Raum, weniger Hustle, mehr Zerstreuung, weniger Stress.
Kurz gesagt: Wir sehnen uns eigentlich nicht nach einem Grundstück, einem Dorf oder Hühnern im Garten, sondern nach mehr Gemeinschaft und der Möglichkeit, durchzuatmen. Dafür ist ein Hof in Brandenburg natürlich sinnvoll, aber sicher nicht die einzige Option. Wieso geben wir diesem Drang nicht nach und fangen an, zu handeln? Nun ja, natürlich sehen wir uns bei der Realisierung dieser kleinen, großen Utopie mit strukturellen Problemen konfrontiert: Mit Gentrifizierung und Verdrängung, steigenden Mieten und fehlendem Wohnraum, zum Beispiel. Sich aussuchen, wo man in einer Stadt leben will, kann man sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Man nimmt was man kriegt und bleibt allein. Und während die Großstädte aus allen Nähten platzen, stirbt die Provinz aus: In Ostdeutschland beispielsweise leben inzwischen so wenige Menschen wie seit 1905 nicht mehr. Das bedeutet auch: Es gibt auf dem Land immer weniger Jobs und eine immer schlechtere Infrastruktur. Das drängt noch mehr Menschen in die Städte. Und das Dilemma nimmt seinen Lauf.
Hollywoodschaukeln und Kräutergärten
Dass dabei unsere Lebensqualität flöten geht, ist also kein Wunder. Das Resultat: Ein Haufen unglücklicher junger Menschen, die sich nach der Provinz sehnen – nur ein bisschen weniger spießig als gewohnt. Es soll eine Gemeinschaft sein, mit Freund*innen Tür an Tür, hier und da ’ne Ziege, ein paar Hühner. Abends grillt man gemeinsam auf der Terrasse und trinkt selbstgebrannten Schnaps. Man hat Hollywoodschaukeln und Kräutergärten. Klar, dass die Realität meistens weniger blumig aussieht, aber dennoch: Was wie eine post-apokalyptische Utopie klingt, wäre eigentlich gar nicht so schwer umzusetzen. Einige von uns haben die nötigen Ressourcen. Wieso nutzen wir sie nicht?
Bildcredits: Nick van den Berg, Luke Stackpoole, Banter Snaps via Unsplash
2 Antworten zu “Es braucht ein Dorf: Die Sehnsucht nach der Mehrsamkeit”
gedankenexperimente dazu // noch nicht abschließend bedacht:
Warum nicht?
– weil die Beziehungsarbeit in meiner (nicht zufälligen sondern wohl ausgewählten und jahrelang bewährten) wg schon reicht und ich Angst habe dass ich dann noch mit viel mehr Menschen arbeit am Hacken hab?
– Weil der aushandlungsprozess hart ist und sowohl daran als auch am Leben im Projekt selbst Freundschaft zerbrechen kann?
– weil die Preise in Brandenburg „auch nich mehr das sind was sie mal waren“?
[…] zum modernen Leben dazu: Wir leben in einer Welt, die immer mehr auf das Individuum – und nicht mehr auf die Gemeinschaft – zugeschnitten ist. Und sie verträgt sich ganz hervorragend mit dem neuen Virus, das uns nun […]