Können wir bitte aufhören, so gesittet zu trauern?

10. Februar 2020 von in

Würde ich der Theorie von Elisabeth Kübler-Ross, die Trauer ließe sich im Wesentlichen in fünf Phasen aufteilen, glauben, wäre mein Schmerz erklärbar, einordbar und letztendlich mit einem klaren Ziel abzuschließen. Leider ist er das nicht. Meine Trauer lässt sich nicht einteilen, sie lässt sich nicht benennen und meist hat sie nur das Ziel der Selbsterhaltung. Sie will da sein dürfen. Akzeptiert werden. Und gefühlt werden.

eins

Als ich das erste Mal einem geliebten Menschen beim Sterben zusah, konnte ich nicht aufhören zu weinen und zu fühlen, während ich dachte, langsam zu erstarren und dann taub zu werden – wie Wasser, das in die Tiefkühltruhe kommt, um zu Eiswürfeln zu werden. Irgendwann starrte ich nur noch an die weiße Wand, nahm wahr, dass Tränen meine Haut runter liefen, aber sonst nichts mehr. Auf dem Weg nach Hause musste ich anhalten, weil ich dachte, ich müsste in den Graben kotzen. Stattdessen kamen nur laute, ungebändigte Schluchzer, wie ich sie noch nie von mir gehört hatte.

Kübler-Ross hat die erste Phase der Trauer als Leugnen bezeichnet. Ich habe nicht geleugnet und genau das tat so weh: Die Erkenntnis, dass sich der Tod nicht verleugnen lässt. Manchmal ist es vielmehr wie ein Traum, in dem man merkt, dass man nur träumt und weiß, dass man wieder aufwachen wird. Wenn man wollte, könnte man aus dem Traum aussteigen. Ich war mir sicher, dass dieser Mensch, der vor mir stirbt, keine Wahl mehr hatte.

zwei

Es vergingen einige Tage. Zorn wäre die zweite Phase der Trauer. Während dieser Tage erlaubte ich meiner Hündin das erste Mal, sich zu mir ins Bett zu legen. Wütend wurde ich nur, wenn ich unter Menschen war. War ich alleine, war ich nicht wütend. Einfach nur traurig. Und naja, alles, was ein Eiswürfel im Gefrierfach ist. Nicht viel eben.

Da Wut vielleicht ein notwendiges Gefühl zur Verarbeitung ist, aber ein schreckliches zum Aushalten, hielt ich mich von Menschen fern. Von allen.

Danach gab es einen Tag, an dem ich aufstand, duschte und vermutlich einen der schönsten Tage meines Lebens hatte, nur weil ich mit zwei Menschen, die ich liebte, im Wald spazieren ging und dabei auf einmal so glücklich war. Ich fühlte mich nicht schuldig. Ich war nicht wütend. Ich war glücklich und ich war traurig.

drei

Zeit für die dritte Phase: das Verhandeln. Verhandelt wurden bei den Familientreffen, die auf den Tod folgten, eigentlich nur die Rahmenbedingungen für die Beerdigung und einige andere Dinge, von denen ich nicht erzählen kann, weil ich aufhörte, zuzuhören. Stattdessen war ich diesmal tatsächlich bei der Wut angekommen. Beerdigungen und der Tod, sollen das auch einfach alltägliche Bestandteile wie das Einkaufen im Supermarkt sein? Ein Punkt auf der To-Do Liste, um den man sich kümmern muss? Diese Rituale kamen mir wie ein verzweifelter Versuch vor, das Unmögliche zu schaffen: Die Trauer in den Griff zu bekommen. Es scheint Menschen zu geben, die glauben, Small Talk sei immer eine gute Idee, auch wenn man in ein verweintes Gesicht schaut, das kaum die Augen offen halten kann. Da ist sie, die Wut.

“War ja auch besser so. Der Gesundheitszustand war einfach nicht mehr gut.” Da ist sie, die Wut.

“Wann studierst du weiter?” Wut.

“Trauer ist egoistisch.” Unfassbare Wut.

“Glaubst du, du bist die einzige, die einen geliebten Menschen verliert?” Eventuell habe ich geschrien.

“Das Leben geht weiter.” Unbeeindruckte Wut.

“Wer verhält sich bitte so?” Fassungslosigkeit. Und dann Wut.

Meine Gedanken haben einen Aufstand geplant, nur meine Stimme hat letztlich die weiße Fahne geschwenkt, blieb stumm und ließ meine Ohren mit den Worten der anderen allein.

vier

Wenn man zornig war und versucht hat zu verhandeln, soll die Depression kommen. Spätestens hier wird klar, dass sich Trauer nicht in Phasen teilen lässt. Man kann meinen Eiswürfel für depressiv halten, aber eigentlich ist er das, was er eben ist: kalt. Und ich bin eben das, was ich bin: traurig. Naja und immer noch wütend, dass sich niemand eingesteht, dass wir es nicht ändern können, dass wir den Tod und die Trauer niemals erklären können oder gar verstehen werden. Dass Floskeln und Rituale keine Stützen der Trauer sind, sondern schwere Vorschlaghammer. Warum wollen wir nicht sehen, dass es so leicht wie nichts anderes ist, einem Trauernden so richtig in die Fresse zu schlagen? Mit einem Samthandschuh. Und es wird trotzdem weh tun als wäre es eine Käsereibe gewesen. Obwohl natürlich alle Recht haben: Es ist der Lauf des Lebens, es gehört dazu. Aber wer verdammt will das denn hören?

fünf

Akzeptanz. Ich habe akzeptiert, dass es Menschen wie diese Frederika auf Elite Partner gibt, die von der gesellschaftlich anerkannten Trauerzeit von einem Jahr spricht, nachdem der Partner verstorben ist. Ich habe auch akzeptiert, dass es Menschen gibt, für die Trauer nur ein Teil ihres durchgeplanten Lebens mit Ratgebern im Bücherregal, mitleidigen Blicken der Bekannten und den verbrauchten Tempos im Mülleimer ist; bis irgendwann der Tag kommt, an dem sie sagen: “Ok, Schluss jetzt. Ich bin fertig mit der Trauer. Schade, dass der Mensch tot ist, aber that’s life.” Und dann zwinkern sie vielleicht einmal kurz, lächeln und machen da weiter, wo sie vor dem Tod aufgehört haben.

Vor allem habe ich akzeptiert, dass die Akzeptanz die Trauer zwar abschließen kann, aber nicht muss. Und dass ich traurig sein darf. Auch wenn meine Jahresfrist schon abgelaufen ist und meine Trauer nicht mehr gesellschaftlich anerkannt ist. Darüber darf ich wütend sein, auch wenn Wut Aufgabe der zweiten Phase ist.

Damit lehne ich mich weit aus dem Fenster und das Rätsel bleibt dennoch: Wie verhält man sich denn dann? Darauf gibt es keine Antwort, weil Trauer eben kein fünfteiliges Schaubild ist, sondern was ganz Individuelles, Schmerzhaftes, Persönliches. Und auch das müssen wir akzeptieren. Es kann hierfür keinen Trauerknigge geben, auch wenn Amazon das anders sieht.

In meiner Trauer gab es eine Frau, die mir nicht sehr nahe steht, aber dennoch die einzige Person war, bei der ich mich verstanden gefühlt habe. Was sie gemacht hat? Gar nicht so viel. Mich in den Arm genommen und dann noch etwas fester, bis ich nicht mehr leise weinte, sondern irgendwann nach Luft schnappte und einfach da stand, in ihrer Umarmung und sie einfach wartete. Sie seufzte bestätigend und ließ es zu, dass ich die Kontrolle verlor. Wenn wir uns danach begegneten, fragte sie, wie es mir geht und ließ mich dabei nicht aus den Augen, bis sie die Antwort in ihnen lesen konnte. Bei allen anderen hatte ich mich im Griff, aber wenn sie mich das fragte, begann ich zu weinen. Vielleicht sind Gefühle so schlau, dass sie sich nur zeigen, wenn sie sich trauen. Darauf folgten keine ewigen Gespräche, kein Analysieren, keine Vorwürfe, keine altklugen pseudophilosophischen Weisheiten. Sie ließ meine Gefühle da sein und manchmal glaubte ich sogar, sie wolle meine Trauer aus mir rausholen und sie provozieren, sich endlich zu zeigen.

So hat sie das geschafft, was sonst keiner, auch nicht ich selbst, geschafft hat: Meine Gefühle nicht nur zuzulassen, sondern auch zu erwarten und mir damit zu sagen: Es ist alles okay mit dir. Deine Trauer ist nicht zu stark, unangebracht oder lächerlich.

Ich habe akzeptiert, dass sich die Trauer bei mir melden wird. Sie wird nicht anrufen oder klingeln, sie wird einfach vor mir stehen. Es kann nachts um drei sein, es kann nachmittags um vier sein. Ihr ist egal, ob ich wach bin oder schlafe. Sie ist am Bahnsteig, im Cafe, auf der Arbeit, im Kino, auf Konzerten. Manchmal erkenne ich sie im Licht des Backofens oder in der Farbe meiner Socken. Sie kann auftauchen, wenn ich gerade noch geglaubt habe, der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Und sie wird keinen Kaffee mit mir trinken und mir auch keinen Streuselkuchen anbieten, sie wird nicht mit mir einkaufen, sondern meine To-Do Liste ohne einen Blick darauf zu werfen, zerreißen. Die Fakten, ob es nun hätte früher soweit sein sollen oder was einfacher, besser oder sonst was wäre, interessieren sie nicht. Sie wird es nicht kümmern, ob ein anderer Mensch auch gestorben ist, ob andere Menschen auch leiden. Sie will nichts, nur mich. Und dann bin ich da. Immer noch am Leben.

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7 Antworten zu “Können wir bitte aufhören, so gesittet zu trauern?”

  1. Ein toller Text, schön dass ihr dieses Thema aufgreift! Die Kommentare die Debbie erfahren musste, sind wirklich aus Sicht einer/es Trauernden schwer zu verstehen. Ich glaube, man kann überhaupt gar nicht gesittet trauern. Gerade beim letzten Absatz habe ich mich sehr gut wieder erkannt. Dennoch muss ich sagen, obwohl ich mich mit keiner dieser Phasen irgendwie beschäftigt habe, war es bei mir persönlich wirklich so, dass genau nach einem Jahr sehr spürbar vieles leichter wurde. Die Unbeschwertheit kam Schritt für Schritt zurück und die Wellen der Trauer kamen nicht mehr wie ein Schlag ins Gesicht, sondern gingen immer mehr ins Grundrauschen über.
    Allen Trauernden wünsche ich viel Kraft und ein verständnisvolles Umfeld.
    Alles liebe Thea

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