Kolumne: Hilfe, ich träume von einer klassischen Familie!

4. März 2021 von in

Ich schließe meine Augen und lasse mich in die warme Wiese fallen. Es ist August 2004, die Sommerferien neigen sich dem Ende entgegen. Das letzte Schuljahr beginnt, Abitur und dann? Ich sauge die Spätsommerluft auf, meine Freundin sitzt neben mir, noch ein paar Sonnenstrahlen einfangen. Die Leichtigkeit spüren. „Und was ist dein Plan so für die Zukunft?“, frage ich meine Freundin, die gerade an einem Grashalm rumzupft. „Du meinst nach dem Abi? Studieren, denk ich mal. Und dann? Eine Familie haben, ein Haus, Hund und Kinder. Und natürlich heiraten. Aber auf keinen Fall in einem Sahne-Baiser-Kleid.“ Ich pruste los. „Oh Gott, ja, auf keinen Fall ein Sahne-Baiser-Kleid.“ „Und du?“ Ich denke einen Moment nach. „Studieren und einen Job finden, der mich erfüllt. Und ich will für immer in einer WG wohnen, mit coolen Leuten, die mich inspirieren.“ „Ehrlich jetzt?“ „Ja, das stelle ich mir so cool vor. In einer tollen Stadt, nie alleine und immer tolle Gespräche.“

Es ist fast schon süß, im Nachhinein zu sehen, welche Wege das Leben genommen hat. Die Sache mit dem Studieren legte ich für zwei Jahre nach dem Abitur erstmal aufs Eis und machte ein redaktionelles Volontariat. Beschloss, meine Zukunft als Journalistin zu bestreiten und erfüllte einen Wunsch auf meiner Liste: einen Job zu finden, der mich erfüllt. Bei der Sache mit der WG, die ich mir so zauberhaft ausgemalt hatte, scheiterte ich grandios. Zwei Jahre hielt ich in einer WG durch, dann hatte ich genug vom gemeinschaftlichen Leben und beschloss, nur noch mit Partner und eventuellen zukünftigen Kindern irgendwann in einer Wohnung zu leben. Das Solo-Leben erfüllte mich so viel mehr, als das abendliche Pasta-Essen in meiner WG. Mit 18 Jahren weiß man eben doch noch nicht so genau, was man sich vom Leben wünscht.

Und da wären wir beim Punkt, der mich seit geraumer Zeit beschäftigt. Ja, fast umtreibt, und den die wunderbare Jaqueline von Minusgold diese Woche so grandios in ihrem Instagrampost zu Wort brachte, dass ich mich endlich traue, auch darüber zu schreiben.

 

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Ein Beitrag geteilt von Jaqueline Scheiber (she/her) (@minusgold)

Ich bin Feministin, Kreative und ein ziemlicher Freigeist. Freiraum ist mir wichtig, ich liebe alternative Lebenswege und bewundere jeden, der sich entscheidet, fernab der Möglichkeiten und entgegen aller Konventionen seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Ich finde, das ist wichtig. Damit wir als Gesellschaft offener werden, neue, andere Lebensmodelle als diese ebenbürtig anerkennen und es irgendwann keine Frage mehr ist, ob Frauen ab 30 Jahren noch Single sind, verheiratet oder mit mehreren Partner*innen lebt.

Und dann stehe ich da, vor all den Möglichkeiten, die mir mein kreatives, aufgeklärtes Leben in der Großstadt bietet. Und wünsche mir doch vor allem eines: eine 0815-Familie.

Mit einem Mann. Kindern. Vielleicht doch irgendwann einer Hochzeit. Einem Haus oder einer Wohnung, vor allem aber einem Zuhause. Ich denke übers Sparen nach, über Anschaffungen, die nicht mehr nur mich betreffen, sondern vielleicht eine Zukunft, von der ich träume. Ich träume nicht von Surfen am Atlantik oder einer Ayurveda-Kur in Sri Lanka, sondern von Roadtrips durch Italien – mit Mann, Kind und Hund.

Und ich erschrecke vor mir selbst.

Warum entscheide ich mich für einen solchen – in der ersten Wahrnehmung – konservativen Lebensentwurf, wenn mir theoretisch alles offen steht?

Ich kenne Paare, die eine offene Beziehung leben. Singles, die seit Jahren bewusst keine feste Beziehung eingehen – „Warum, wenn ich jederzeit alles haben kann?“. Menschen, die polyamouröse Verbindungen bevorzugen. Frauen und Männer, die anders lieben, anders als es unsere Gesellschaft gelernt hat. Auch die Arbeitswelt hat sich formiert, und hey, da bin ich vorne mit dabei. Ich arbeite freiberuflich, selbstbestimmt und meistens ohne direkten Chef. Hier habe ich mich vom konservativen Bild verabschiedet und bin mutig meine Wege gegangen. Aber in der Liebe, in meiner privaten Lebensgestaltung, eieiei, da träume ich dann doch vom sogenannten traditionellen Lebensmodell. Zumindest oberflächlich betrachtet.

Oder wie Jaqueline es so schön sagt: „Während sich viele in meinem Umfeld von sogenannten traditionellen Lebensmodellen abwenden, bastle ich mir zunehmend eine Schablone eines zumindest auf den ersten Blick konservativen Lebensentwurfes. viele meiner Freund*innen brechen Tabus, in der Art und Weise, wie sie arbeiten, lieben, wie sie auftreten und ihre Zukunft gestalten. Und ich? Meine Träume vervollständige ich mit 9-to-5-Jobs, der Vorstellung von Hochzeit und Kindern in einer heteronormativen Beziehung.“

Und da stehe ich gemeinsam mit Jaqueline am Rande und blicke tief in Richtung Zwiespalt. Ich habe viel gelernt, bin für das Aufbrechen von Traditionen, denke so viel über Altes und Neues nach und erweitere immer öfter mein Denken und meine Perspektiven.

Ich bin für das Aufbrechen von Strukturen, von vorgelebtem „Muss'“ und wünsche uns allen viel mehr Flexibilität, vor allem in unserer Lebensgestaltung.  Und träume doch heimlich von dem Modell, das seit Jahrzehnten das vorgelebte Ideal ist. What is wrong with me?

Aufgewachsen bin ich wohlbehütet auf dem Land. Doch großgezogen worden bin ich vor allem von Frauen. Mutter, Oma, Tante. Starken Frauen, denen Unabhängigkeit wichtig war. Die sich in den 80er-Jahren für ein Leben entgegen aller Konventionen entschieden, aneckten und dabei eine Art Super-Power entwickelten. Die mir zeigten, dass zu Arbeiten und Kinder zu haben anstrengend, aber machbar ist. Und die mir predigten: Sei unabhängig, egal, wohin dich dein Weg führt. Bis heute bewahre ich mir dieses Wissen. Abhängig von einem Mann, nein danke. Die klassische Mutter-Vater-Kind-Konstellation kenne ich trotzdem nur von Freund*innen und aus Erzählungen. Und vielleicht rührt daher der Wunsch, einmal die Tradition zu leben. Diesen Weg ganz bewusst zu gehen, mit all der Kenntnis, die ich heute habe. Und mit dem Wissen: Wenn’s nicht klappt, den alternativen Lebensentwurf bekomme ich sowieso gewuppt. Wie meine Mama.

Vielleicht ist es meine Erklärung, die meinen Zwiespalt beruhigen, besänftigen soll. Die mich beruhigen soll. Dass es okay ist, die Problematik eines „Lebensplans“ anzuerkennen, die Schwierigkeit traditioneller Familienbilder zu benennen und trotzdem für sich ein ähnliches Bild zu entwerfen, in dem Konventionelles auf Modernes trifft.

Und vielleicht braucht es auch jene Menschen, die sich weiterhin in die Tradition wagen, um hier die Stimme für Veränderung zu sein.

Denn auch wenn ich in meiner Vorstellung von der klassischen Familie träume, soll sie aufgeweicht sein. Ich möchte Gleichberechtigung auf voller Linie. Einen Partner, der auf Augenhöhe mit mir agiert. Der ähnlich feministisch wie ich durchs Leben geht. Eltern sein, die arbeiten und sich gleichberechtigt um die Kinder kümmern. Ich träume von einem möglichst nachhaltigen Leben, in dem Plastik keine Rolle, E-Mobilität und ein veganer Lebensstil eine umso größere spielen. Ich träume von unkonventionellen Urlauben in einem konventionellen Urlaubsland. Ich träume davon, dass meine zukünftigen Kinder Vielfalt kennenlernen. In Menschen, in Berufen, in ihren Lebensmodellen. Dass sie die Wahl haben und wissen, auch wenn sie aus einem auf den ersten Blick traditionellem Haushalt kommen, doch vieles anders, ja moderner, war.

In meiner aufgeklärten Bubble wirkt die Entscheidung für ein solches Lebensmodell spießig, wird vielleicht sogar verurteilt. Und dabei wünsche ich mir, dass wir in dieser offenen und toleranten Gesellschaft, in der ich leben will, auch uns kleinen Inner-Spießer*innen einen Platz zugestehen. Dass wir ein kreatives Leben führen können, das auch Konventionen enthält.

Jaqueline von Minusgold sagte in ihrem Post: „Problematische Strukturen finden ihren Nährboden auf jedem Untergrund. Ich glaube, wir müssen den Inhalt ändern und nicht nur die Rahmenbedingungen.“ Und ich nicke. Ja!

So sehr ich mich einem klassischen Familienbild als Rahmenbedingung sehne,
so sehr möchte ich den Inhalt aufbrechen.

Neu definieren. Das Bild der Frau in dieser traditionellen Konstellation stärken und vorleben: Tradition geht auch anders, freier, offener und mutiger. Und vor allem auch unabhängiger. Wahrscheinlich auch flexibler, denn niemand weiß, was die Zukunft wirklich bringt.

Am Ende – und damit schließe ich meinen kleinen wirren Zukunftsgedankenstrang, den @minusgold ausgelöst hat – gilt wohl für alles: Es muss sich richtig anfühlen. Wenn das Innen sich gut anfühlt, die Entscheidungen losgelöst von Erwartungen von außen, ganz bewusst für einen selbst getroffen werden, egal, was das Außen suggeriert und spricht, ist es immer das Richtige. Egal, ob es der Norm entspricht oder nicht. Wir als Menschen entscheiden, wie wir leben wollen. Wir alle können wählen, verschiedene Wege gehen, scheitern und uns neu sortieren. Ob als Freigeist – oder eben als kleine Spießerin. Mit Feminismus-Anspruch, natürlich.

 

 

 

 

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6 Antworten zu “Kolumne: Hilfe, ich träume von einer klassischen Familie!”

  1. JA JA JA!
    Du hast so Recht mit dem Beitrag!
    Außerdem ist es auch sehr bereichernd, wenn man sogenannte „Spießer*innen“ wie auch Freigeister im sozialen Umfeld hat. Man kann von allen nur lernen und ich bin mir sicher, dass sich die verschiedenen Welten auch sehr gut kombinieren lassen. Sogesehen lebt man eigentlich nie nur das eine oder andere Lebensmodell, sondern mehr oder weniger alles in einem. :)

  2. Für mich ist „Spießertum“ eher eine Frage der Einstellung als der Lebensweise. Ich kenne weltoffene Freigeister, die in der klassischen Mutter-Vater-Kind-Beziehung leben ebenso wie unheimlich bornierte, intolerante Spießer in anderen Lebensmodellen. Also wenns passt – go for it!

  3. Hey Toni, schöner Text. Du hast bestimmt gehört, dass wir nach Kraiburg gezogen sind. Wenn Du mal da bist und Begleitung für eine Runde Gassi-gehen brauchst, meld dich gerne :)

    Viele Grüße,
    Ines

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