#leavenoonebehind: Warum wir laut sein müssen

10. September 2020 von in

Der lauer Spätsommerwind wehte mir ins Gesicht, als ich 2015 vollgepackt mit Sachen des täglichen Bedarfs an den Münchner Hauptbahnhof radelte. Die Fluchtbewegung hatte sich ihren Weg aus Griechenland über Rumänien und Bulgarien nach Deutschland gebannt. Angela Merkels historisches „Wir schaffen das“ war ein Akt der Menschlichkeit, und ich wurde das erste Mal in meinem Leben so richtig mit dem Bewusstsein konfrontiert: Das Frieden und ein ruhiges Leben vor allem viel mit Glück zu tun haben. Nicht, dass ich das nicht gewusst hätte, im Kleinen ist einem das sicherlich auch immer wieder klar, wenn man andere Lebensentwürfe und Familien sieht. Aber an jenem Tag in der Herbstsonne am Hauptbahnhof konnte ich die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten dieser Welt nicht mehr verdrängen. Ich sah sie – mitten in München wurde ich mit meinem eigenen Privileg konfrontiert.

Jener Tag, das Begleiten der Menschen, die müde und ausgezerrt aus Bussen und Zügen stiegen, dankbar für eine Flasche Wasser waren und sie den Kleinsten der Gruppe weiterreichten, hinterließ Spuren. Wann immer ich Diskussionen über Geflüchtete in Europa mitbekam, war ich vor allem nur eines: wütend. Wütend, weil ich nicht verstehen konnte, warum die europäischen Staaten sich so schwer tun. Warum wir die Menschlichkeit zur Seite schieben und die Menschen auf der Flucht sich selbst überlassen. Warum wir in Not geratene Passagiere auf einem Kreuzfahrtschiff in der Nordsee retten, gleichzeitig Menschen im Mittelmeer mit Ansage ertrinken lassen. Und warum wir immer noch einfach nur zusehen.

Es ist fast eine Ironie des Schicksals, dass wir heute – fünf Jahre nach der Fluchtbewegung – und in diesem für die Welt katastrophalen Jahr 2020 wieder hier stehen, die Katastrophe ihren Lauf nimmt und ich nicht länger meinen Mund halten kann.

Meine Wut, meine Traurigkeit, ja mein Entsetzen, haben sich in den vergangenen Monaten und Jahren eher im Stillen abgespielt. Das muss sich wieder ändern.

Wir haben 2016 gemeinsam mit Geflüchteten aus Syren und dem Iran eine Ausstellung umgesetzt, viel mit euch darüber geredet, ich habe immer wieder Kleidung & Co. an Unterkünfte gespendet und die Seawatchcrew finanziell unterstützt. Ich habe die Nachrichten weiterverfolgt, oft den Kopf geschüttelt, meine eigene Machtlosigkeit gespürt – und trotzdem mit meinem Leben irgendwie weiter gemacht. Ich habe zwar in meiner Instagram-Story immer mal wieder auf die Tragik in den Camps auf Griechenland und anderen Ländern aufmerksam gemacht, aber ich spüre, das reicht nun nicht mehr.

Ich erinnere mich noch, wie ich mit meiner Familie Anfang der Corona-Pandemie über die Problematik des Virus‘ in Camps sprach. Der Tenor unserer Gespräche: Das wäre die Katastrophe.

Seit Monaten fordern vereinzelte PolitikerInnen in Deutschland, Menschen aus den großen Camps wie Moria auf Lesbos aufzunehmen. München hat sich bereit erklärt und darf trotzdem niemanden aufnehmen.

Deutschland hat Platz, wir haben Platz – und um nochmal die Worte unserer Bundeskanzlerin von 2015 zu wiederholen:
Wir schaffen das.

Warum ich das so naiv von mir gebe? Weil Deutschland 83 Millionen Einwohner hat – und wir wirklich, und damit meine ich jede einzelne Kommune, locker Menschen in ihrer Mitte aufnehmen kann. Wenn wir denn nur wollen. Im Vergleich: Auf Lesbos leben 86.000 Menschen, 13.000 geflüchtete Menschen im Camp Moria kommen hinzu. Der Libanon hat 6,8 Millionen Einwohner – und eine Millionen Personen in Not aus Syrien und Palästina aufgenommen. Warum zur Hölle können wir als Europa – mit Ländern wie Frankreich, Großbritannien, den skandinavischen Nachbarn und Österreich, nicht einfach erstmal 13.000 Menschen aus einer akut lebensbedrohlichen und menschenverachtenden Situation retten?

Das Camp Moria auf Lesbos ist überfüllt. Europa sieht zu, wie sich hier seit Wochen und Monaten eine humanitäre Katastrophe abspielt. Nicht nur, dass die hygienischen Bedingungen in dem Camp eine Katastrophe sind, die Menschen vor Ort leben unter schrecklichen Bedingungen zusammen. Das Camp ist auf 2000 Menschen ausgelegt, 12600 Menschen leben derzeit dort.

#Moria now. looks like total wasteland . Photos sent to me by resident Raid. Thoughts among officials of housing ppl on open areas far away from inhabited areas as temp measure . That’s a crisis of gigantic proportions on all levels – political , humanitarian . EU must wake up pic.twitter.com/yKD6aj5q05

— Giorgos Christides (@g_christides) September 9, 2020

Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation vor Ort noch einmal mehr verschärft. Ein Covid-19-Ausbruch vergangene Woche ließ die Situation eskalieren – aktuell sind 35 Menschen laut Spiegel Online infiziert, die Menschen vor Ort haben Angst, sich anzustecken und keine medizinische Hilfe zu erlangen. Das Lager wurde unter Quarantäne gestellt, Abstand halten oder sich regelmäßig die Hände zu waschen ist so gut wie kaum möglich.  Die griechische Regierung ist überfordert und kümmert sich kaum – außer die Idee voranzutreiben, einen Zaun um das Camp zu ziehen. NGos wie die Seebrücke und viele andere sind entsetzt, wie die europäischen Staaten dabei zusehen, wie sich Menschen einfach selbst überlassen werden.

Dienstagnacht eskalierte die Situation vor Ort – und es war nur eine Frage der Zeit: Nach Gewalt, vermehrten Suizidversuchen und verzweifelten Aufständen brannte das Camp zu 70 Prozent ab. Einen Tag nachdem die NGO Seebrücke 13.000 Stühle vor dem Bundestag aufgebaut hatte, um auf die verheerenden Zustände im Camp Moria aufmerksam zu machen. „Wie konnte das passieren?“, titeln heute Morgen die Tageszeitungen – als hätten wir es nicht ahnen können.

Während Tausende von Menschen in Moria nun obdachlos sind, ihr weniges Hab & Gut sowie ihr Zuhause wieder einmal verloren haben, spricht der Bundesinnenminister weiterhin von einer gesamt-europäischen Lösung. Kurz: Gemeinsam hält man an der unmenschlichen Lagerpolitik Europas fest und sieht zu, wie Menschen leiden und sterben.

Klimaaktivistin Luisa Neubauer sprach mir gestern aus der Seele:

Der Friedensnobelpreis der EU ist fast schon lächerlich, in Anbetracht der momentanen Lage. Wir haben Platz – und machen nichts. Ist es nicht unsere menschliche Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Egal, woher sie kommen? Die Antwort lautet: ja!

Auch der offene Brief der Seebrücke und 19 anderen Hilfsorganisationen unterschreibt meine Gedanken: „Wenn Europa und Deutschland seine Werte nicht endgültig verraten wollen, muss die Zeit des Nichthandelns mit dem heutigen Tag vorbei sein. 13.000 Menschen in Moria hätten längst evakuiert werden müssen, doch die Bundesregierung hat bislang versagt. Tausende Menschen sind seit dem Brand obdachlos. Wir fordern von der Bundesregierung, ihre Blockadehaltung umgehend aufzuheben und die sofortige Aufnahme der Menschen nach Deutschland zu organisieren, denn: Wir haben Platz.“

Wird es einfach sein? Nein! Wird es uns herausfordern? Ja! Gibt es eine andere Lösung, als zu helfen? Nein! Es ist unsere verdammte Pflicht. 

Wir müssen wieder lauter sein. Nicht mehr nur mit Entsetzen die Nachrichten ansehen, sondern auch deutlich zeigen, dass wir als Gesellschaft Veränderung wollen. Und nicht erst, wenn sich die Katastrophe vor unserer Haustür abspielt. Denn nochmal: Der Ort, wo wir geboren werden, ist Zufall und kein Recht. Wir hatten einfach nur Glück.

Teilt also die Thematik auf euren Social-Media-Kanälen und sucht das Gespräch mit Familie und Freund*innen. Spendet an NGOs. Geht auf die Straße, demonstriert – mit Abstand und Maske – in euren Städten. Zeigt der Bundesregierung und damit auch Europa, dass wir keine Angst vor dieser Herausforderung und ihren Folgen haben.

Dass in dieser verrückten Zeit nur eines hilft: zusammenzuhalten. Sodass wir – und andere Generationen – irgendwann mit Stolz zurückblicken und nicht sagen müssen: Wir haben menschlich auf voller Linie versagt.

Hier findet ihr eine Übersicht aller Aktionen der Seebrücke. 

 

 

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6 Antworten zu “#leavenoonebehind: Warum wir laut sein müssen”

      • Liebe Antonia, Gleiches gilt auch für den Euphemismus „Migration“, der leider auch in großen Medien in letzter Zeit zunehmend den tatsächlich zutreffenden Begriff „Flucht“ verdrängt (2. Zeile deines Textes). Migration ist, wenn wir in die USA auswandern, um uns da aus freiem Willen ein neues Leben aufzubauen. Flucht ist, aufgrund von Krieg, Hunger oder Verfolgung das eigene Land verlassen zu müssen. Abgesehen davon, vielen Dank, dass du den Blog nutzt, um auf das Drama in Moria und das Versagen in der Flüchtlingspolitik aufmerksam zu machen!

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