Resilienz: Ist es eine Superpower, alles auszuhalten?

7. Mai 2024 von in ,

Dieser Text ist zuerst im August 2023 erschienen.

Die Frage, mit der ich diesen Text schmücke, würde ich direkt mit einem lauten JA beantworten. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Es ist übermenschlich, alles auszuhalten. Und auch einfach nicht möglich. Zusammenbruch ist hier das große Wort. Woher kommt eigentlich der Irrglaube, alles aushalten, verkraften und leichtfüßig überwinden zu müssen, um stark und unbesiegbar rüberzukommen? Wieso muss man denn unbesiegbar sein? Und woher kommt es, dass manche Menschen so enorme Lebenskrisen überwinden und andere schon bei einer vergleichbaren Kleinigkeit zusammenbrechen? All diese Fragen schwirren seit einiger Zeit in meinem Kopf herum – aus gutem Grund. 

Jeder Mensch fühlt anders intensiv 

Zuerst möchte ich auf ein Thema eingehen, welches in Bezug auf das Aushalten immer wieder begegne. Die Subjektivität. Wie schlimm, belastend und (un-)erträglich eine Situation oder ein Gefühl ist, können andere Menschen niemals beurteilen. Auch dann nicht, wenn sie diese Situation exakt so selbst schon einmal durchlebt haben. Nicht alle Menschen sind gleich belastbar. Das liegt auch daran, dass Gefühle nicht messbar und schon gar nicht immer identisch sind, wir spüren sie alle unterschiedlich. Und ich spreche hier nicht von kleinen, dezenten Abweichungen. Jeder Mensch spürt unterschiedlich intensiv, unterschiedlich positiv, unterschiedlich negativ. Daher ist es unangemessen, uns mit etwas zu schmücken, was wir „ertragen haben“, während andere Menschen daran zerbrochen sind. 

Wer nie Nein sagt, sagt umso öfter Nein zu sich selbst

Auch ich gehör(t)e lange Zeit zu den Menschen, denen man jede Verantwortung abgeben konnte, besonders in emotionaler Form. Alle Sorgen, Ängst und jeder Ärger wurde an meinem Tisch ausgetragen und ich war oft „die einzige der man das alles erzählen kann“. Das ist einerseits ein schönes Kompliment und machte mich dann nach Außen hin zu dem Menschen, der ich sein wollte. Jemand, dem man alles aufbrummen kann und den man mit jeden Kummer beladen kann. Auch in Zeiten, in denen es mir selbst nicht gut ging.

Daran bin ich selbst schuld. Weil ich nie Grenzen setzte und nie den Anschein machte, dass es mir zu viel werden könnte. Ich wollte immer für alle da sein, lieb, nett, verständnisvoll und gleichzeitig stark sein. So ein Schwachsinn. Ich kam dabei für alle, die mich nur oberflächlich betrachteten, so rüber, als würde ich einfach alles aushalten. Dass ich jedes Mal mit leeren Akkus in mein eigenes Leben zurückkehrte, ließ ich nie durchsickern. Ich sagte weiterhin nie Nein, wenn mich jemand um einen Gefallen bat, selbst, wenn ich dafür eigene Hobbys, Termine und mein Privatleben pausieren musste. Ich trage die alleinige Verantwortung dafür, denn ich habe es so lange gemacht, bin ich es selbst glaubte. Zumindest an den Tagen, an denen ich nicht in mich selbst hineinhörte.

Vorab: Ich habe die immerzu hochgepriesene Resilienz einmal gegoogelt, einfach mal um zu schauen, wie es denn wortwörtlich übersetzt wird. Dabei kam Folgendes raus: Übersetzt wird der Begriff häufig als „Widerstandsfähigkeit“. Bezogen auf den Menschen beschreibt Resilienz die Fähigkeit von Personen oder Gemeinschaften, schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen.

Der Wasserkocher im Kopf

Wenn ich an das Aushalten denke, und daran, dass einige Menschen sich immer weiter mit seelischen und körperlichen Ballast beladen, denke ich an einen Wasserkessel auf dem Herd. Besonders an das Pfeiffen des Wasserkochers auf dem Herd. Es wird immer lauter und lauter, bis es unerträglich wird. Dabei könnten wir den Kessel runternehmen, uns eine unfassbar gemütliche Tasse Tee damit zubereiten und anschließend neues Wasser aufkochen lassen. Unser Wasserkessel ist in der Lage, bis an sein Lebensende tollen Tee zuzubereiten. Wenn wir das nervtötende Pfeifen aber aushalten und nicht abstellen, werden wir nicht nur wahnsinnig und verlieren den Verstand, sondern wir zerstören auch den Wasserkessel mit seiner wichtigsten Funktion. Damit ist weder dem Wasserkocher, noch den unzähligen und wartenden Tassen Tee geholfen, die sich so auf frisches und gut gekochtes Wasser gefreut haben.

Lasst mal bisschen mehr die Krise kriegen

Menschen, die ständig über ihr eigenes, anstrengendes Leben klagen, nach Außen hin verdeutlichen, dass sie nichts mehr verabscheuen als Ballast, Verantwortung oder Kummer, denen wird ab einem gewissen Punkt kein Vorwurf mehr gemacht. Ihnen darf man nichts zumuten, denn: sie ertragen es nicht. Und das ist allen bekannt. Sie möchten sich von jeglichem Ballast distanzieren und leichtfüßig durchs Leben laufen. Und: das sei ihnen gegönnt. Doch leider fällt das immer denjenigen auf die Füße, die das genaue Gegenteil machen. Diejenigen, die zeitweise viel bis alles ausgehalten haben und sich nie beschwerten.

Das lässt sich besonders gut im Job erkennen: Diejenigen, die sich alles aufbrummen und nie beschweren, bekommen den gleichen Lohn und die identische, oftmals kaum vorhandene, Anerkennung. Einzig mehr Stress und eine längere To Do Liste bekommen diejenigen, die nie Nein sagen.. 

Belastbar, flexibel, voller Ausdauer und Widerstandskraft, nachgiebig, flexibel, präsent, verlässlich: Eigenschaften, die wir nur allzu gern hören und am liebsten über uns selbst. Wie viel sind diese Schubladen am Ende des Tages denn wirklich wert? Sind sie es wert, unsere Batterien aufzubrauchen und uns für eine viel zu lange Zeit energielos und ausgelaugt. zu fühlen, nur um für einen Bruchteil unseres Lebens den Anschein zu erwecken, wir würden alles aushalten? 

 

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„Ich kann mich das nicht erlauben!“

„Ich kann mir nicht erlauben, zusammenbrechen“, sagen nicht nur Mütter in den ersten Jahren ihrer neuen Verantwortung, sondern auch gern Menschen im Job. Und ich verstehe das natürlich: Wir können uns sollten uns nicht ständig erlauben, bei jeder Kleinigkeit zusammenzubrechen. Erst recht nicht, wenn Kinder involviert sind.

Es ist also selbstredend, dass wir vor (unseren) Kindern nicht vollkommen die Fassung verlieren, wenn uns alles zu viel wird und wild um uns schlagen. Schließlich wollen wir den Kindern keine weiteren Päckchen (Traumata) mitgeben, die sie dann später aufgrund ihrer nicht-emotional-stabilen Eltern aufarbeiten müssen. Davon bekommen sie unbeabsichtig schon genügend mit. 

Aber ebenso ungesund, fast schon schlimmer ist es, zu suggerieren, dass alles super sei und sich nur noch mehr aufzubrummen. Damit bestärken und übertragen wir Glaubenssätze, wie: Ich kenne meine eigenen Grenzen nicht. Ich kann keine Grenzen ziehen. Ich bin mir selbst nicht wichtig genug.  Mal signalisieren wir das unserem Umfeld, mal aber auch unseren Kindern oder Partner:innen.

Wir signalisieren den Glaubenssatz: Ich muss alles ertragen. Und das müssen und können wir nicht. 

Zeit für die sanfte Krise 

Wenn wir aber mehr „Krise“ bekommen sollen, dann kann die Krise auch sanft aussehen, zeitgleich kann sie sich leer anfühlen. Die „Krise“ muss auch nicht überspielt und mit einem kurzen Handzeichen abgewehrt werden, wenn sie auftritt. Krise darf existieren. Und zwar in aller innerlichen Fülle. Wenn wir aber wirklich um uns schlagen und einfach mal ausflippen möchten, dann können wir uns selbst dafür einen geeigneten Raum suchen, der das zulässt. Und wenn wir diesen Raum wieder verlassen, dann müssen wir nicht das breiteste Grinsen im Gesicht tragen und alles mal wieder Überlächeln, dann dürfen wir auch sagen: Heute ist einfach nicht mein Tag. MIR. WURDE. EINFACH. ALLES. ZU. VIEL. Stellt uns als wenig belastbar, schwach oder gar unausgeglichen dar? Nein. Es zeigt nur, dass wir selbstbestimmt handeln, indem wir ein rotes Stoppschild hochtragen, bevor es unser Körper für uns tut. 

 

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Wer durchgängig schwer trägt, bricht sich eines Tages den Rücken

Besonders bei schrecklichen Ereignissen oder traumatischen Erlebnisse lassen sich die Folgen des Aushaltens gut erkennen. An den Menschen, die beispielsweise nach dem Tod einer geliebten Person ganz unberührt erscheinen, obwohl alle wissen, dass der Schmerz tiefer sitzt. Diese Personen möchten vermeintlich stark sein, all das aushalten, den Schmerz nicht an die Oberfläche lassen und sich nicht angreifbar machen. Von der Außenwelt lieber als unnahbar und stark wahrgenommen werden. Bis sie es irgendwann schon nicht mehr schaffen, die aufgerichtete Maske in ihren eignen vier Wänden abzunehmen. Bis es irgendwann wie ein Felsen zurückrollt und nicht mehr aufzuhalten ist. 

Selbstfürsorge muss gelebt werden

Was bei dem Thema „Aushalten“ immer (!) auf der Strecke bleibt, ist die Selbstfürsorge. Und wie viele aggressive Instagram-Postings brauchen wir noch, um zu verstehen, wie wichtig dieses Thema ist? Damit wir halbwegs „funktionieren“ und nicht nur den Anschein machen, sondern es auch fühlen. Schließlich sind wir keine laufenden Motoren, die wir austauschen oder reparieren. Unsere Reparatur dauert ziemlich lange und ist ziemlich zäh, wenn wir es einmal zu weit kommen lassen. Ist es das wirklich wert, nur damit wir die Starken sind, die alles ertragen? Ich denke, die Antwort ist uns allen bewusst. Wenn wir also merken, dass es wieder heißt: „ach die macht das schon“, dann können wir einfach sagen: Nein. Sie macht gar nichts. 

Besonders in Familienmodellen, wie auch immer diese auch aussehen mögen, macht sich das Familienoberhaupt oft zur Aufgabe, alles und jeden auszuhalten. Aber selbst der „Fels in der Brandung“ kann nur eine gewissen Zahl an Krisen und Ereignissen abprallen lassen. 

Es ist mehr als in Ordnung

Ich bin (leider) keine Psychologin. Ich kann also nur das wiedergeben, was mir geholfen hat und was ich von und Psychologinnen und anderen Fachleuten besprochen habe: Es ist in Ordnung, nicht alles auszuhalten. Es ist in Ordnung, Nein zu sagen, wenn alles zu viel wird. Es ist in Ordnung, zusammenzubrechen und den vulnerablen Teil der Identität zu zeigen. Es macht uns nicht schwächer. Es macht uns nahbarer, menschlicher und sorgt dafür, dass wir Selbstliebe nicht nur beschwören, sondern auch leben. 

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