Wo ist meine Heimat? Und wann ist sie mir fremd? 6 Geschichten über Herkunft und Identität

27. März 2023 von in ,

Was bedeutet Heimat? Sobald man den Ort, an dem man aufgewachsen ist, verlässt, und sich woanders ein Leben aufbaut, spürt man sie: die Zerrissenheit, die den Begriff „Heimat“ nicht mehr nur mit einem Ort verbindet. Was entsteht, wenn man von Zuhause weggeht, sind zwei Orte, die Heimat heißen. Zwei Welten, mit denen man sich identifiziert und die das Gefühl von Zugehörigkeit in einem auslösen. Aber auch zwei Orte, die oft völlig verschieden sind.

Man kann viele Dinge an dem Ort lieben, der einen die gesamte Kindheit begleitet hat, wo man die Dinge erlebt hat, die einen für immer tief geprägt haben. Man kann aber auch vieles nervig finden an diesem Ort, anstrengend, zu starr, zu klein, oder zu wenig man selbst. Es kann sich ein ganz anderer Ort für einen öffnen, an dem man das Gefühl hat: Hier gehöre ich her. Hier sind die Menschen, die so sind, wie ich. Hier führt man ein Leben, das mir entspricht. Die Wahlheimat ist oft der Ort, an dem man sich völlig frei das eigene Leben aufbauen und in allen Facetten gestalten kann. Es kann aber auch der Ort sein, an dem die Wärme des Geborgenen fehlt, an dem man vertraute Strukturen vermisst und an dem einen doch auch wieder die Sehnsucht überkommt.

Diese Ambivalenz, die Zerrissenheit zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten, thematisiert der Debütfilm „Alle reden übers Wetter“ der Berliner Regisseurin Annika Pinske, die zuvor zum Beispiel beim „Toni Erdmann“ assistierte. Im Februar 2022 feierte „Alle reden übers Wetter“ seine Weltpremiere auf den Filmfestspielen Berlin und wurde anschließend als „Bester Erstlingsfilm“ für den GWFF-Preis nominiert. Seit 24. März ist er nun auf der Streaming-Plattform MUBI zu sehen.

Unter diesem Link könnt ihr MUBI übrigens 30 Tage kostenlos testen

In „Alle reden übers Wetter“ geht es um die 39-jährige Clara, die in Berlin ein ganz anderes Leben führt als die Menschen in der Mecklenburg-Vorpommerschen Provinz, wo sie aufgewachsen ist. In Berlin promoviert Clara gerade in Philosophie über Hegels Begriff der Freiheit und bewegt sich im universitären Umfeld und auf diversen Veranstaltungen im akademisch-elitären Umfeld, in dem sie gerne mal vorgibt, Tochter eines Diplomaten und ganz anders als tatsächlich aufgewachsen zu sein. Clara lebt in einer Erwachsenen-WG in Kreuzberg. Auch in dieser Hinsicht führt sie ein unkonventionelleres Leben als der Vater ihrer 15-jährigen Tochter, der mit seiner neuen Frau in einem Haus am Stadtrand wohnt.
Als Clara mit ihrer Tochter zur Geburtstagsfeier ihrer Mutter in ihren Heimatort fährt, spürt man die Kontraste der zwei Welten. Ihre Mutter ist herzlich, fragt, ob sie gut durchgekommen sind und andere oberflächliche Fragen, vermeidet aber, genauere Fragen über Claras Leben in Berlin zu stellen. Weil ihre Mutter keinerlei Anknüpfungspunkte zu diesem Leben hat und nichts von ihrem Studium versteht, hat Clara auch das Gefühl, dass ihre Mutter nicht stolz auf sie sein kann. Obwohl sie alle Menschen im Ort, wie den Besitzer der Dorfkneipe, ihr Leben lang kennt, fühlt sie sich fremd in der eigenen Heimat. Die Szenen einen Dorffests bilden den krassen Kontrast zu den elitären Abendveranstaltungen in Berlin. Bei dem Besuch wird ihr bewusst, wie weit sie sich auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben von ihren Wurzeln entfernt hat. Und es bleiben die Fragen: In welcher Welt ist Clara nun wirklich zu Hause? Wo ist sie sie selbst, und ist man überhaupt je an einem Ort ganz man selbst, in allen Facetten?

Passend zum Streaming-Start haben wir euch gemeinsam mit MUBI gefragt: Wo ist eure Heimat? Welche Gefühle habt ihr zu dem Ort, an dem ihr aufgewachsen seid, und zu dem, an dem ihr mittlerweile lebt? Wie unterscheiden sich beide Orte? Und in welchen Situationen sind euch die so vertrauten Umgebungen auch fremd? 6 persönliche Geschichten über das Leben zwischen Heimat und Wahlheimat und die Frage der eigenen Identität.

Miriam, 28

Ursprünglich komme ich aus einem Dorf nahe einer Kleinstadt in Niedersachsen, in der Nähe von Hamburg. Das Dorf ist kein klassisches Bauerndorf, es zieht eher Städter an, die im Grünen leben möchten. Dort habe ich mich, auch durch meine Erziehung, immer gefühlt, als würde mir die Welt offenstehen. Meine Großeltern mütterlicherseits sind zur See gefahren und viel gereist, und Hamburg war auch für mich immer das Tor zur Welt. Mir war irgendwie immer klar, dass ich nicht in der Heimat bleibe, weil es bei uns zu Hause ganz normal war, dass die Kinder nach der Schule „das Nest verlassen“, ausziehen und vielleicht auch studieren gehen. Die Ferne hatte für mich einen großen Reiz, und so bin ich fürs Studium nach Bayern gegangen und habe zwischendurch auch in verschiedenen Großstädten und Ländern gewohnt.

Nun, 8 Jahre später, lebe ich in einem kleinen Dorf auf dem bayerischen Land. Ohne meinen Freund wäre ich hier sicherlich nie gelandet. Er ist hier aufgewachsen, seine ganze Familie lebt hier und er kann sich das Leben woanders nicht vorstellen. Für mich ist es nicht ganz einfach, da das Leben hier – obwohl ich selbst vom Land komme – viel traditioneller und konservativer ist, als ich es kenne. Als Berufstätige 28-Jährige, die nicht Hausfrau und Mutter werden möchte, steche ich schon heraus. Ich arbeite in München und genieße die Abwechslung zwischen Stadt und Land sehr. Hier im Dorf kennt sich jeder schon ewig, es gibt kaum „Zugezogene“, schon gar keine, die nicht aus Bayern kommen. Hier gibt es sehr viele junge Leute, die ihre Heimat nicht verlassen möchten.

Einerseits finde ich es schön, dass solche Gemeinschaften existieren, andererseits ärgert mich oft die Kleingeistigkeit, die hier herrscht. Jeder kennt und spricht über jeden, ständig trifft man die gleichen Leute, anders zu sein hat hier wenig Raum. Die Eingewöhnung hier war für mich nicht einfach, die Menschen hier sind eher voreingenommen und ich habe mir schon einige, natürlich nie böse gemeinte, Witze darüber anhören müssen, nicht aus Bayern zu sein. Gerade die fehlende Offenheit und Toleranz anderen gegenüber, sowie politische Meinungen haben bei meinem Freund – ihn zähle ich dazu natürlich nicht – und mir schon oft zu Streit über unseren Wohnort geführt.

Ich fühle mich in Bayern und in meiner Umgebung schon auch wohl und zu Hause. Hier in der nächstgelegenen Stadt habe ich studiert, meine Freundinnen gefunden, meinen Freund kennengelernt und ich liebe die Gegend sehr. Die größte Hürde sind für mich aber immer noch die Menschen im Ort. Ich habe kein richtiges Heimweh, dafür bin ich schon zu lange weg von Zuhause. Aber ich habe Zeiten, in denen ich mich schon frage, ob ich hier „für immer“ leben möchte. Ob man sich nicht doch irgendwann nach dem sehnt, wo man „hingehört“. Und immer, wenn ich mit dem Zug in die Heimat fahre und die Zugbegleiter irgendwann Hamburger Dialekt sprechen, macht mich das schon etwas sentimental. Ich glaube, man schätzt seine ursprüngliche Heimat noch viel mehr, wenn man eine Weile weg ist.

Sicherlich glorifiziert man seine eigene Heimat auch irgendwie. Auch bei uns zu Hause gab es sicherlich nicht nur offene, tolerante und weltgewandte Menschen. Aber der Kontrast fällt mir schon sehr auf. Man lernt auf jeden Fall schnell, Grenzen zu ziehen und sich selbst treu zu bleiben. Die Entfernung hat dazu geführt, dass ich meine Heimat sehr schätze und mich immer freue, hinzufahren. Auch die Beziehung zu meiner Familie hat sich dadurch sicherlich nochmal gestärkt.

Aber auch meine neue Heimat verkörpert für mich viele schöne Dinge, auch wenn ich mich nicht immer so „dazugehörig“ fühle. Umso wichtiger sind mir hier mein Freund und die Freundinnen, die mich so nehmen, wie ich eben bin und nicht darauf schauen, wo jemand herkommt.

Ich bin gespannt, wie sich dieses Gefühl mit dem Älterwerden verändert. Ich glaube, dass es vor allem dann anders wird, wenn ich Kinder haben sollte. Jetzt denke ich manchmal darüber nach, dass ich meinen Kindern trotzdem lieber mehr Werte aus meiner Heimat mitgeben würde und sie sich dort auch zuhause fühlen sollen. In meinen Augen ist es einfach wichtig, seine Heimat auch mal eine Weile zu verlassen, um erwachsen zu werden und andere Menschen und Kulturen kennenzulernen. Da fällt es mir oft schwer zu verstehen, dass die Menschen hier nicht so den Drang danach haben. Aber vielleicht würde es mir auch so gehen, wenn ich hier aufgewachsen wäre? Wer weiß.

Rosa, 33

Ich bin in Spanien geboren und aufgewachsen, meine Mutter ist deutsche und ich hatte schon immer das Gefühl zwischen zwei Welten zu leben. Man gehört überall dazu, aber auch irgendwie nicht. Man hat ein bisschen von beiden Kulturen, man spricht beide Sprachen, man kennt beide Länder. Oder zumindest dachte ich das, bis ich vor 10 Jahren nach Deutschland kam und länger als nur für einen Urlaub blieb. Damals wurden mir die realen Unterschiede deutlich bewusster. Ich musste und habe mich angepasst, ich wurde ruhiger und irgendwo deutlich introvertierter. Ich fühlte mich immer wieder „ich“, sobald ich im Flieger saß.

Inzwischen sind 10 Jahre vergangen und ich lebe seit neun in München. Ich bin nicht mehr die Person, die ich damals war. Ich habe mich an die Kultur angepasst und auch gemerkt, dass ich mich damit sehr wohl fühle. Wenn ich nach Hause fahre, obwohl ich in letzter Zeit oft daran zweifle, ob jetzt nicht München mein Zuhause geworden ist, merke ich immer noch wie viel ich mich nach der Spontaneität, der Empathie, der Lebensfreude sehne. Und wenn ich wieder zurück bin, merke ich wie toll ich die deutsche Pünktlichkeit finde.

Immer wieder in Spanien zu sein, ist für mich auch irgendwie eine Art, wieder Fuß zu fassen und auf irgendeiner Weise bodenständig zu werden. In München verliert man sich oft im Arbeitsstress und in dem gesellschaftlichen Druck immer besser zu sein, mehr zu verdienen – und vergisst das Wesentliche im Leben. Mich erdet es immer dort zu sein. Zu sehen wie die Menschen viel glücklicher mit deutlich Weniger sind.

Ich war immer eher negativ gegenüber den „zwei Welten“ und die nicht gefundene Zugehörigkeit eingestellt – vor allem, weil es für mich als Kind nicht einfach war. Aber inzwischen bin ich froh und dankbar darüber. Ich hatte das Glück, damit aufzuwachsen, es hat mich und meinen Charakter geprägt.

Wo ich mich Zuhause fühle? In München, aber auch bei meinen Freunden in Madrid oder mit meiner Familie bei einem großen spanischem Mittagessen. Die Frage ist: Kann man einfach mehrere Heimaten haben? Meine Antwort: Auf jeden Fall! Heimat ist immer da, wo dein Herz ist und meins ist einfach an mehreren Stellen.

Simon, 36

„Mensch, dich sieht man ja oft hier, man könnte fast meinen, du wohnst hier!“ Dass dieser Bewohner meines Heimatdorfes 10 Jahre nach meinem Wegziehen offensichtlich nicht so genau wusste, wer ich bin und dass ich 20 Jahre in diesem Dorf gelebt hatte, überraschte mich doch sehr. Als Person, die vom Dorf in die Stadt gezogen ist, fühlt man sich manchmal wie jemand, der nirgendwo so richtig dazugehört, oft aber wie jemand, der beide Seiten kennt und das Beste aus diesen Welten verbindet.

Im Vergleich zu meinen Bekannten „aus der Stadt“ bin ich eher konservativ. Mir sind traditionelle Werte wie Familie und Freundschaft sehr wichtig. Die meisten Leute, die in meinem Leben eine zentrale Rolle spielen, kenne ich seit 20 Jahren und länger.

Wenn ich mir dagegen meine Bekannten vom Land anschaue, fühle ich mich sehr linksliberal. Ich liebe die Fortschrittlichkeit und Diversität in der Stadt. Ich liebe auch die Anonymität und die Möglichkeit, mir meinen Freundeskreis, meine Arbeit und so weiter auszusuchen, anstatt eben das zu nehmen, was da ist.

Ist im Heimatdorf etwa der Fußballverein oder die Freiwillige Feuerwehr das große Ding, ist einfach JEDE:R dabei. Das erzeugt Gemeinschaft. Wer aber andere Interessen hat, hat eben Pech gehabt. Wer nicht reinpasst, wird schnell zum Außenseiter. Und wie Freundschaften und Beziehungen dort oft für immer halten, lässt sich leider auch dieser Außenseiter-Status schwer abschütteln.

In der Stadt kann ich mir aussuchen, ob ich in den Volleyballverein möchte, mich Jiu Jitsu oder klassische Musik interessieren. Für jede:n ist etwas dabei. Wenn man etwas ausprobiert und es dann doch nicht passt, probiert man halt etwas Neues aus.

In den letzten Jahren nehme ich eine Veränderung wahr, eine Polarisierung. „Die Städter“ sind für „die Dörfler“ linksgrüne Moralisten, die ihnen das Auto und damit die Freiheit nehmen wollen, gleichzeitig aber fünf mal im Jahr nach Bali fliegen. Die Leute vom Dorf dagegen sind für viele Städter rückwärtsgewandte Konservative, die an einer Zeit festhalten, die einfach vorbei ist.

Gleichzeitig gibt es auch eine positive Entwicklung: Es gibt so viele wie mich, die vom Land in die Stadt gezogen sind und seit Corona, Home Office und rasant steigenden Mieten in den Metropolen auch einen umgekehrten Trend zur Flucht aufs Land.

Schließlich kann man über Städter und Dörfler sagen was man will, aber: Sobald man sich mit dem oder der jeweils anderen zusammensetzt, stellt man meistens fest, dass man ein offenes Ohr findet, wenn man sich im Gegensatz die Zeit nimmt, auch der anderen Seite zuzuhören. Dann stellt man plötzlich fest, dass der Städter auch eine große Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Zusammenhalt, nach Ruhe und Natur hat. Und dass die Dörflerin gerne mehr über verschiedene Kulturen und diverse Lebensweisen erfahren will.

Ich selbst fühle mich mittlerweile sehr wohl in meiner priveligierten Rolle, in der ich mich sowohl über den Nachbarn in der Stadt, der im Sommer mit dem Lastenrad, beim kleinsten Regenschauer jedoch mit dem fetten SUV die 200 Meter zum Supermarkt zurücklegt, aufregen kann, als auch über den Nachbarn meiner Eltern, der mal wieder auf einen Fake-News-Artikel bei Facebook reingefallen ist und diesen empört mit all seinen Freunden teilt.

Corinna, 36

Auch nach 12 Jahren in London habe ich immer noch das Gefühl, nie ganz dazuzugehören, weil ich nicht die gleiche Erfahrungsbasis habe. Leute fragen mich immer noch, wie dieses oder jenes in Deutschland sei, und ich bekomme englische Traditionen erklärt, als hätte ich sie nicht selber schon diverse Male miterlebt, was extrem frustrierend sein kann. Ich weiß nicht, wie lange man im Ausland leben muss, um über diese Phase hinwegzukommen, oder ob es nie passieren wird und man sich immer als „anders“ empfinden wird.

Zurück in Deutschland fühlt sich zunächst immer alles einfacher und unbeschwerter an, weil ich mich nicht ständig erklären muss. Aber relativ schnell stoße ich dort selber auf Unverständnis und bemerke, wie sehr ich mich verändert habe. Meine Weltanschauung und Erwartungshaltungen sind nun beeinflusst vom Leben in der internationalen Großstadt und sind nicht immer kompatibel mit der Lebensweise meiner vergleichsweise kleinen Heimatstadt.

Mittlerweile weiß ich den langsameren Lebensstil in Deutschland aber sehr zu schätzen. Alles ist einfach etwas entspannter und das ganze Leben dreht sich nicht nur um die Arbeit. Was das Tempo angeht, merkt man den Unterschied sofort, sobald man in London landet, weil alle direkt wie besessen losrasen und einfach mal Nichrstun selten eine Option ist.

Was in an London gleichzeitig sehr schätze, ist eine gewisse Grundakzeptanz für andere Kulturen und Lebensstile, die mir in Deutschland oft noch fehlt. Gerade wichtige Themen wie Diversity und Inclusion und die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien finde ich in London viel präsenter im Alltag.

Ich persönlich finde es schwer, mich komplett auf ein dauerhaftes Leben in England einzulassen, aber gleichermaßen macht mir die Option, zurück nach Deutschland zu ziehen, Angst, da ich gefühlt das Leben dort verlernt habe. Die Frage, die mich ständig beschäftigt, ist: Wird man sich jemals irgendwo richtig zu Hause fühlen, oder kann man lernen, damit umzugehen, sich nie richtig verankert zu fühlen?

Lilli, 36

Irgendwann kam ich in meine alte Heimat zurück und merkte: Irgendetwas hat sich verändert. Ich hatte fast das Gefühl, man würde mir ansehen, dass ich aus der Stadt komme. Beziehungsweise, dass ich nicht mehr Teil dieser Gemeinschaft bin. Vielleicht war es mein Kleidungsstil, vielleicht meine innere Distanz, vielleicht auch ein Mix. Aber genau in dem Moment wusste ich: Ich bin gerne hier, nur leben, das kann ich nicht mehr hier.

Ich bin in einer Kleinstadt im Alpenvorland aufgewachsen. Kein Dorf, aber eben auch keine große Stadt. Jede:r kannte jede:n, ich bin dreizehn Jahre mit den selben Menschen zur Schule gegangen, man traf sich im Supermarkt, auf Dorffesten oder in der Disko 30 Kilometer weiter. Ich liebte die Natur, die vielen Ausflugsmöglichkeiten und dieses heimelige Gefühl von Zuhause. Trotzdem ging ich irgendwann weg, nach München, in die Großstadt. Studieren, arbeiten. Und kam nicht mehr zurück.

Heute lebe ich 15 Jahre in München. Diese Stadt ist mein Zuhause. Hier sind meine Freund:innen, meine Arbeits:kolleginnen, hier kenne ich mein Viertel, den Postboten genauso wie die Bäckersfrau. Ich habe mir meine eigene Kleinstadt in München geschaffen, und bin überzeugt davon, dass gerade für ein Kleinstadtkind wie ich es bin, München die perfekte Großstadt ist. Mein Freund und ich hatten trotzdem einen Moment lang überlegt, zurückzuziehen. Haben Häuser angesehen, über das Thema gesprochen und uns am Ende dagegen entschieden. Noch sind wir nicht bereit, München den Rücken zu kehren.

Heimat ist trotzdem die Kleinstadt, das Alpenvorland. Wenn ich meine Familie besuche, die Berge sehe, fühle ich mich auf eine wundersame Art und Weise verbunden. Auch wenn ich vieles an der Kleinstadt kritisch sehe. Die Engstirnigkeit, die Veränderungen, die nur langsam Einzug halten, die politische Orientierung und die intolerante Haltung gegenüber anderen Lebensformen auf dem oberbayerischen Land sind für mich in großer Kritikpunkt. Viel zu sehr wird hier noch in traditionellen wie patriarchalen Strukturen gedacht, diese zu durchbrechen dauert. In München habe ich das Gefühl, sind die Menschen offener für diese Veränderungen. Und trotzdem: Das Heimatgefühl wird wahrscheinlich für immer zwischen den Bergen und dem Chiemsee liegen. Zuhause bin ich trotzdem für den Moment in München.

Anna, 21

Drei Wörter, zwei Schreibweisen, ein Gefühl. Wie oft ich beides schon seziert habe, kann ich lange nicht mehr sagen. Den Ort, an dem ich aufgewachsen bin, beschreibe ich geografisch gerne so:
Student:innenstadt – Vorort – Dorf – Waldsiedlung.  Meine Kindheit dort hab ich geliebt, in meiner frühen Jugend war es wie ein Korsett.

Als ich etwa 12 war, war begann ich zu spüren, dass ich mit meinem Nachnamen in besagtem Vorort nie für mich alleine stehen werde. Dass ich immer zuerst nach dem Wohlergehen meiner Tante, Oma oder Mutter, jeweils Ärztinnen, gefragt werde, bevor mein Gegenüber etwas zu mir fragt.

Mein Umzug nach dem Fachabi in eine 2,5-Regionalzugstunden entfernte Stadt wie ein großer Befreiungsschlag, zumal ich nun sehr zentral und mit der Straßenbahn vor der Tür wohne. Ich habe mich damals Hals über Kopf verliebt in das Gefühl, hier zu leben, einfach Anna zu sein. Für Außenstehende praktisch keine Vergangenheit und damit irgendwie alles in der Hand zu haben. Ob das Gefühl an dieser Stadt per se liegt, oder ob es einfach der Kontrast zu meiner Heimat ist, kann ich gar nicht sagen.

In der ersten Zeit war „nach Hause fahren“ mit sehr starken, ambivalenten Emotionen verknüpft und ich hatte überhaupt kein Gefühl dafür, wann es Zeit ist, zu gehen, bevor ein Streit-Fass überläuft. Den Dreh habe ich mittlerweile sehr gut raus, nicht zuletzt war genau das eine gute Schule für mich in Sachen Abgrenzung und Kommunikation meiner Bedürfnisse.

Vor wenigen Monaten habe ich einen guten Freund auf eine Limo in unserer früheren Lieblingskneipe getroffen. Auf dem Weg dahin durch die Altstadt überrollte mich eine Welle der Heimatstadt-Sehnsucht. In wenigen Monaten endet meine Ausbildung und ich habe nicht nur einmal darüber nachgedacht, zurückzuziehen. Allerdings ist meine Heimat wie meine Ex: Ein Großteil der Altlasten ist verheilt und heute sind wir Freundinnen. Wir funktionieren aber nur so gut zusammen, weil wir jeweils unseren Space haben, weil ich die Möglichkeit habe, jederzeit zu gehen. „Eigentlich hatten wir doch eine richtig gute Zeit zusammen“ sind Gedanken, die vermutlich jede:r von uns schon über vergangene Beziehungen jeglicher Art hatte. Und besonders ich neige dabei zur Verdrängung davon, was mir am meisten weh getan hat.

Durch den Abstand konnte ich meine Heimat auf eine ganz neue Art lieben lernen. Wenn ich heute zu Besuch bin, fülle ich die Zeit bewusst mit Menschen, die mir gut tun. Und auch wenn es wehtat, war es für mich wichtig zu lernen, dass Familie auf dem Papier nicht gleichzusetzen ist mit einem Freifahrtschein für jegliche Äußerung. Ich meide aktiv Gespräche übers Wetter, habe mir mittlerweile eine Handvoll Antworten auf die typischen Smalltalk-Fragen zurechtgelegt und verinnerlicht, dass ich genau niemandem auf der Straße, der oder die Patient:in bei meiner Tante war, Rechenschaft schuldig bin, warum ich drei Monate vor meinem Abschluss noch keinen Vertrag für eine Festanstellung in der Tasche habe. Oder warum ich eine orange Jeans mit Schlag trage. Oder warum ich Single bin.

Meine Heimat gibt mir Rückhalt und Sicherheit, meine Wahlheimat Freiheit und Leichtigkeit. Ich kann nicht eins davon „lieber“ haben, denn nur durch die sichere Basis kann ich die Freiheit zulassen und nur durch die Leichtigkeit habe ich verstanden, was meine Basis ist. Dass wir aber, egal wohin wir gehen, unsere (Alt-)Lasten mitnehmen, gilt meiner Meinung nach auch in diesem Kontext: Meinungen, Ansichten oder Streitpunkte gehören in erster Linie zu den Menschen, nicht zu dem Ort oder der Umgebung. Und der meiste Streit entfacht, weil jemand einen bestimmten Punkt trifft oder nur streift und ich allergisch darauf reagierte – das wurde mir besonders klar, als meine Berufsschullehrerin mich in Sekunden auf ein Wut-Level brachte, wie ich dachte, dass es nur meine Mutter schafft. Pustekuchen. Für den Ort gilt das allerdings auch: am anderen Ende von Europa traf ich einmal auf eine ähnliche Landschaft wie die meiner Heimat, auf eine ähnliche Weite, Farben, Gerüche. Das Gefühl war sofort da, auch wenn ich geografisch hunderte Kilometer entfernt war.

Die „richtige“ Heimat oder die gewählte – ankommen können wir überall, wenn wir uns nur aktiv dafür entscheiden.

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