Die Happiness-Lüge: Warum wir negative Emotionen zulassen und der toxischen Positivität den Rücken kehren sollten

20. Mai 2021 von in

Immer wieder habe ich es meinen Freund*innen in der Corona-Krise vorgebetet: Es ist völlig okay, wenn ihr nicht macht. Nichts tun könnt. Oder maximal Netflix euch Unterhaltung bietet. Während in den sozialen Medien der Kampf um die kreativsten Ideen für den Lockdown im März 2020 ausbrach, fühlte sich einige einfach nur leer. Das zehnte Bananenbrot im Feed half dann nicht mehr. Nur: Dass man sich noch weniger produktiv, wertvoll oder überhaupt lebensfähig fühlte. Und das ist ganz normal. Niemand von uns weiß, wie er auf große Krisen reagiert. Ob er in Aktionismus verfällt oder eben doch lieber nur schlafen will.

Wir müssen endlich aufhören, das Leben danach zu messen, ob wir 24/7 good vibes only spüren. Denn Spoiler: Das wird nicht funktionieren. Wir alle sind mal traurig, down oder einfach gelähmt. Jeder, der Liebeskummer erlebt hat, weiß das. Das ist keine Sache des Mindsets, sondern einfach nur menschlich.

Die Autorin und Journalistin Anna Maas aus Hamburg hat zu diesem Thema ein Buch geschrieben. In „Die Happiness-Lüge“ räumt sie auf mit toxischer Positivität, erklärt, warum gerade Frauen unter ihr so leiden und warum Schicksalsschläge keine Lernerfahrung sein sollten. Grund genug, mit Anna über genau diese Themen für amazed zu sprechen – und euch ihr Buch ans Herz zu legen!

Anna, dein Buch heißt „Die Happiness-Lüge“. Was ist deiner Meinung nach toxische Positivität?

Toxische Positivität basiert auf der Annahme, dass das Leben nur dann gelungen ist, wenn es durch und durch aus positiven Gefühlen besteht. „Good Vibes Only“ eben. Zudem liegt die Verantwortung für das eigene Glück immer beim Individuum: „Du bist deines Glückes Schmied!“ bedeutet eben auch: „Wenn es gerade mal nicht so läuft, dann bist du selbst schuld. Führ ein Dankbarkeitstagebuch! Arbeite an deinem Mindset!“ Dieses Denken blendet äußere Umstände komplett aus.

Und warum ist diese Annahme so fatal?

Positives Denken ist per se nichts Schlechtes, doch wenn gar kein Raum mehr für unangenehme Gefühle und belastende Situationen bleibt und wenn dieses positive Denken dazu führt, dass wir Gefühle bei uns selbst und bei anderen klein reden und nicht ernst nehmen, dann entsteht Scham und Druck. Schlimmstenfalls kann zwanghaft positive Denken unserer psychischen Gesundheit schaden.
Und: Wut und Frustration können auch Antreiber eines gesellschaftlichen Wandels sein. Wenn alles immer nur weggelächelt wird, ändert sich nichts.

Good vibes only, nutze den Tag – warum sind solche Kalendersprüche Unsinn?

Wir alle kennen Ängste, Sorgen, Stress, Krisen und Krankheiten. Das Leben ist eben nicht immer rosarot. Das ist total normal und total okay, wir sind Menschen, solche Emotionen gehören nun mal zum Leben dazu. Diese typischen Kalender- beziehungsweise Motivationssprüche tun so, als könnten wir einfach einen Schalter im Kopf umlegen und alles wird gut. Wenn wir es versuchen, aber die Sorgen dann nicht einfach weg sind, haben wir am Ende auch noch ein schlechtes Gewissen, weil wir es nicht „schaffen“, positiver zu denken. Diese Sprüche können somit in schwierigen Phasen viel Druck erzeugen.

Du sprichst in deinem Buch den Happiness-Wahn in der Corona-Krise an? Warum glaubst du, gab es ihn und was hat er mit uns gemacht?

Ich glaube, dass wir alle auf die ein oder andere Weise an unsere Grenzen kamen und diese Krise für uns alle eine riesige Herausforderung war und noch ist. Doch kaum jemand zeigt sich gern verletzlich. Kaum jemand gibt gern zu, ab und an überfordert und heulend auf dem Küchenboden zu liegen. Stattdessen: Bananenbrot! Keller ausmisten! Fitnessprogramm! Basteltipps für die Kids! Yay! Nicht nur nach außen, auch für uns selbst haben wir versucht, die Fassade des Happiness-Lifestyles zu wahren, um nicht diese fiesen Emotionen aushalten zu müssen. Solche Positive-Thinking-Postings haben dann Druck für andere aufgebaut. Aber ich spüre, dass nach über einem Jahr Pandemie viele Menschen langsam ehrlicher werden und offener über unangenehme Gefühle sprechen. Diese Ehrlichkeit tut so gut!

Warum ist es wichtig, dass wir unsere negativen Emotionen zulassen und ihnen Raum gewähren?

Negative, besser gesagt, unangenehme Emotionen sind Hinweise auf unerfüllte Bedürfnisse. Nur, wenn wir die Gefühle zulassen und genau hinschauen, können wir verstehen, was eigentlich dahintersteckt. Ein Beispiel: Wenn mir ein*e Autofahrer*in die Vorfahrt nimmt und ich raste völlig aus und schreie wie verrückt herum, dann ist vermutlich nicht die oder der Autofahrer*in schuld an meiner Wut, sondern dieses Erlebnis war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich könnte nun Gute-Laune-Musik anmachen und meinen Frust schnell vergessen. Oder ich überlege, wieso ich so reizbar bin. Brauche ich vielleicht mehr Zeit für mich? Mehr sozialen Austausch? Mehr Schlaf? Weniger Arbeit? Mehr Autonomie?

Erst wenn wir Emotionen zulassen, können wir sie wirklich verstehen – und uns besser um uns selbst kümmern.

Gerade Frauen sind oft mit toxischer Positivität belastet – vor allem als Mütter. Im Buch schreibst du von verzerrten Idealbildern in der Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft – was meinst du damit?

Ach, wir kennen doch alle diese Bilder der selig lächelnden Schwangeren, die verzückt ihren Bauch streichelt und die magische Zeit genießt. Und im Kreißsaal kann es doch auch ganz toll laufen, Stichwort schmerzfreie Geburt. Und dann die Wochenbett-, äh, Kuschelzeit, in der man sich in Ruhe kennen lernen darf und auf Wolke 7 schwebt und ganz nebenbei den After-Baby-Body zurückerobert. Und dann: glückliche Kinder, glückliche Eltern, alles im Leben erreicht. Ja nee, ist klar. Ich habe zwei Kinder – die Realität sieht oft anders aus.

Warum glaubst du, gibt es dennoch dieses verzerrte Bild und wie setzt es Frauen unter Druck?

Mütter tragen immer noch eine Art „Heiligenschein“. Natürlich sind Kinder ein großes Glück und ich liebe meine beiden Kids auch über alles. Aber zu sagen, dass nicht immer alles perfekt und manchmal einfach nur wahnsinnig anstrengend ist, gilt immer noch als riesen Tabu. Und wenn man dann doch drüber spricht, kommen schlimmstenfalls Antworten wie: „Sei doch froh, dass du so schnell schwanger geworden bist!“ oder „Sei froh, dass du ein gesundes Kind hast!“. Dann fühlt man sich erst recht falsch und wie ein Monster.

Wie können sich Frauen davon lösen?

Wir sollten ehrlich zueinander sein! Wenn ich mit meinen Freundinnen, die auch Kinder haben, ganz offen über anstrengende Momente und unangenehme Gefühle spreche, merken wir oft, dass es der anderen genauso geht. Dass wir keine Monster sind, sondern ganz normale Menschen. Das tut so gut und lässt die eigenen Emotionen schon ein bisschen weniger groß erscheinen.

Anstatt uns gegenseitig unter Druck zu setzen, sollten wir uns in den Arm nehmen und uns in schwierigen Phasen helfen.

Jede Frau kennt es: „Lächel doch mal“ – was ist so falsch an diesem Satz?

Ich glaube, dass Frauen in unserer Gesellschaft noch stärker als Männer dem Druck ausgesetzt sind, lieb, nett und attraktiv zu sein. Wut und Ärger sind unweiblich, unattraktiv, hässlich. Diese Emotionen werden deshalb von klein auf verdrängt und unterdrückt. Willkommen im Happiness-Lifestyle! Und wenn dann noch jemand sagt: „Lächel doch mal!“, wird dieser Druck, als Frau immer gefallen zu müssen und lieb zu sein, weitergetragen. Übrigens: Ich lächle auch viel und gern. Aber ab und zu muss man eben auch auf den Tisch hauen dürfen, ohne als „frustrierte Zicke“ abgestempelt zu werden.

Ein Thema, das mich vor allem auf Social Media wütend macht: Alles hat seinen Grund – bzw. „Du wirst sehen, auch im Schlechten liegt das Gute“. Quasi die Glorifizierung von Schicksalschlägen als Lernerfahrung. Dabei ist manchmal einfach alles fürchterlich. Wie siehst du das?

Sowas nervt mich auch. Menschen, die viel Mist erlebt haben, sind doch nicht automatisch wahnsinnig weise und lebensklug. Wenn man einen Schicksalsschlag erlebt, ist das meist erstmal schmerzhaft. Wenn man daraus etwas lernt – schön! Wenn nicht – auch okay! Es darf auch einfach nur weh tun und es reicht auch aus, den Kopf über Wasser zu halten.

Man muss keine Erleuchtung in jeder Krise erwarten.

Wer immer versucht, das Gute zu sehen, landet schnell beim Thema Spiritualität. Wo liegt hier die Gefahr – und was ist die Chance?

Tatsächlich kann sich ein gesundes Maß an Spiritualität positiv auf die psychische Gesundheit auswirken. Mit spirituellen Techniken können wir Stress abbauen, im Alltag aus dem Hamsterrad aussteigen und zu uns selbst zurückfinden. Die Gefahr dabei: Hin und wieder werden spirituelle Praktiken genutzt, um unangenehme Dinge zu verdrängen, statt sie zu verarbeiten. Dieses Phänomen wird „Spiritual Bypassing“ genannt. Kurz gesagt: „wegomen“ statt hinschauen. Spiritualität kann helfen, in Ruhe in uns hineinzuhorchen und uns selbst näher zu kommen. Aber das ist nicht immer nur angenehm. Wenn Spiritualität nur mit dem Ziel verknüpft ist, ein wohliges, glückliches Gefühl zu erzeugen, am besten sofort und dauerhaft, dann stimmt etwas nicht.

 

 

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Warum ist es deiner Meinung nach so wichtig, allen Gefühlen ihren Raum zu geben?

Zum einen ist es wichtig für die psychische Gesundheit. Wenn Gefühle immer nur verdrängt werden, werden sie im Inneren größer und kommen irgendwann wieder zum Vorschein – meist dann, wenn man sie so gar nicht gebrauchen kann.
Zum anderen bringt es uns auch als Gesellschaft nicht weiter, wenn Probleme und unangenehme Gefühle immer nur weggelächelt werden. Strukturelle Probleme oder Diskriminierungsformen beispielsweise werden erst durch die Wut und Empörung der Betroffenen sichtbar. Nur wer laut wird und negative Gefühle ausspricht, kann etwas ändern.

Und wie können wir lernen, mit unseren negativen Emotionen umzugehen?

Ich persönlich finde es hilfreich, mit Freund*innen sehr offen zu sprechen – es tut gut, zu merken, dass man nicht allein ist. So verstehen wir, dass wirklich alle Gefühle okay sind und zum Leben dazugehören. Auch Tagebuchschreiben kann helfen. Ein ehrliches Tagebuch, kein Dankbarkeitstagebuch! Peu à peu kommen wir uns so selbst ein Stück näher und können unsere negativen Emotionen besser verstehen und einordnen.
Wer wirklich nicht mehr selbst aus einem Tief herausfindet, sollte sich professionelle Hilfe von außen suchen. (Und auch dafür braucht man sich nicht zu schämen!)

Was wünscht du dir von unserer Gesellschaft in Bezug auf die Happiness-Lüge?

Weniger toxische Positivität, mehr emotionale Akzeptanz und Vielfalt! Ich glaube, dass ein authentisches Gefühlsleben zu mehr Ehrlichkeit, mehr Mitgefühl, mehr Selbstmitgefühl und weniger Schwarz-Weiß-Denken führen kann. Dafür müssen wir von dem Denken wegkommen, dass jeder ständig glücklich sein und an einem positiven Mindset arbeiten muss. Mein Motto: All vibes welcome!

Das Buch von Anna Maas ist diesen Mai im Eden Books-Verlag erschienen
und hier erhältlich.

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